Freiwilligendienst im Jüdischen Zentrum in Oświęcim
Bericht von Imogen
Lieber Jan Korte,
schon in wenigen Wochen endet mein Freiwilligendienst im Jüdischen Zentrum in Oświęcim und ich möchte diesen Bericht nutzen, um einige meiner Eindrücke und Erfahrungen im letzten Jahr zu reflektieren und meinen Paten davon zu erzählen:
Das Jüdische Zentrum:
Die Arbeit im Jüdischen Zentrum hat mir sehr gut gefallen und ich bin sehr glücklich, dass ich meinen Freiwilligendienst in genau diesem Projekt leisten konnte. Die Freiwilligen sind sehr gut in die Abläufe im Zentrum eingebunden, sodass ich denke, dass ich viel zur Arbeit des Zentrums beitragen konnte. Jede Woche gebe ich mehrere Führungen oder Workshops für deutsch- und englischsprachige Gruppen und zeige ihnen das Museum, die Synagoge, die Stadt und den jüdischen Friedhof. Alle Angestellten und auch der Direktor des Zentrums sind sehr an den Freiwilligen interessiert, nehmen sich immer Zeit für unsere Fragen und teilen ihr Wissen mit uns. Durch die Arbeit habe ich wunderbare, offene Menschen kennengelernt und enge Freundschaften geschlossen.
Besonders beeindruckt hat mich an dem Konzept des Jüdischen Zentrums der Ansatz, historische Bildungsarbeit mit Antidiskriminierungsarbeit zu verbinden. So werden im Zentrum beispielsweise Seminare für polnische Polizist*innen organisiert, in denen sie einerseits zum Holocaust und andererseits zu Hate Crimes, also durch Antsemitismus, Rassismus, Sexismus oder Homophobie motivierte Straftaten, arbeiten. Während des Life Festivals in Oświęcim fanden im Cafe Bergson Workshops zu sexueller Selbstbestimmung und Schwangerschaftsabbrüchen und Migration und Flucht statt, an deren Organisation ich mitgewirkt habe. Großen Spaß hat mir ein Stencil-Workshop gemacht, bei dem wir mit Schulklassen aus Oświęcim Beutel und T-Shirts mit Symbolen gegen Diskriminierung bedruckten. Im Rahmen des English Cafe haben wir Freiwillige außerdem selbst die Möglichkeit, jede Woche einen Abend für die anderen Freiwilligen und Jugendliche aus der Stadt zu gestalten. So organisieren wir Präsentationen zu verschiedensten Themen, Diskussionsabende, aber auch Film- und Spieleabende. Obwohl wir einige spannende Veranstaltungen organisiert haben, kommen leider bisher vor allem die anderen Freiwilligen regelmäßig. Hoffentlich gelingt es unseren Nachfolger*innen, das English Cafe zu verbessern und Jugendliche aus der Stadt besser einzubinden.
Kürzlich wurde im Museum im Mai eine neue Fotoausstellung mit dem Namen „Granice” (Grenzen) zum Thema Multikulturalismus in Polen eröffnet, die Menschen verschiedener Nationen in traditioneller polnischer Kleidung zeigt und damit die Homogenität Polens und die Geschlossenheit der Gesellschaft heute in Frage stellt. Während heute der Anteil von Menschen in Polen mit Migrationshintergrund bei unter 0,5 Prozent liegt, war Polen historisch ein Land, in dem Menschen verschiedener Religionen und Nationen lebten. Durch die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung und der in Polen lebenden Roma während des Holocaust ging diese Diversität verloren. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde nach der Westverschiebung Polens die übrige ukrainische Minderheit in die Sowjetunion und Polen aus der Ukraine, Weissrussland und Litauen nach Polen zwangsumgesiedelt. Während direkt nach dem zweiten Weltkrieg noch etwa 300.000 Jüdinnen und Juden in Polen lebten, emigrierten viele auf Grund von Besitzverlust und Antisemitismus aus Polen, sodass seit 1989 nur noch etwa 5.000 bis 10.000 Juden in Polen leben.
Oświęcim und Auschwitz:
Eine Frage, die von Gruppen im Museum immer wieder gestellt wurde und die mich natürlich auch selbst beschäftigt hat, ist: Was bedeutet es für eine Stadt, direkt neben Auschwitz zu liegen?
Die meisten der Leute, die ich kennengelernt habe und die hier aufgewachsen sind, würden antworten, dass Oświęcim für sie eine ganz normale Stadt ist. Ich verstehe die Antwort, denn natürlich ist Auschwitz im Alltag nicht ständig präsent, in der Stadt gehen die Leute einkaufen, in Cafes und Bars, wie anderswo auch. Viele Einwohner*innen stört es, dass ihr Wohnort und damit auch sie von außen nur mit Auschwitz verbunden werden und bei der Frage, wie es sich hier lebt, so häufig der Vorwurf der Indifferenz gegenüber der Bedeutung dieses Ortes mitschwingt. Es ist wichtig, mitzudenken, dass Auschwitz von Deutschen errichtet wurde, während einer Besatzungszeit, unter der auch die Eltern und Großeltern der heute hier Lebenden litten. Häufig wird unterstellt, dass die Menschen die hier lebten, den Häftlingen auf Grund von Antisemitismus nicht helfen wollten. Ich denke zwar auch, dass es wichtig ist, aufzuzeigen, dass es in Polen und auch in Oświęcim auch Antisemitismus innerhalb der katholischen polnischen Bevölkerung gab, es ist jedoch gegen den Vorwurf einzuwenden, dass viele Menschen in der Stadt durchaus während der Besatzung und nach der Befreiung Häftlingen halfen und dass diese Hilfe das Riskieren des eigenen Lebens bedeutete. Auschwitz wurde außerdem gerade hier nicht ausschließlich wegen der Massenvernichtung an Jüdinnen und Juden wahrgenommen, sondern auch wegen der vielen katholischen Häftlinge und politischen Gefangenen.
Gleichzeitig ist mein Eindruck, dass die Stadt sich aus Angst vor Verstärkung der Assoziation mit Auschwitz zu sehr von der Gedenkstätte abgrenzt. Eine verständliche Bestrebung ist, zu zeigen, dass die Geschichte der Stadt länger ist als nur die Jahre während der deutschen Besatzung, das führt allerdings dazu, dass diese Zeit ganz ausgeblendet wird. So endet die Ausstellung des lokalen Museums im Jahr 1939, es wird darauf verwiesen, dass die folgenden Jahre ja bereits in der KZ
Gedenkstätte gezeigt werden. Kürzlich erschien ein Imageclip der Stadt, in dem verschiedene Organisationen und Museen gezeigt werden, Auschwitz aber nicht erwähnt wird. Ich denke, dieser Versuch der Abgrenzung von der Gedenkstätte wird nicht erfolgreich sein, sinnvoller und pragmatischer wäre es, neben dem Jüdischen Zentrum ein weiteres Angebot für die vielen Besucher*innen des KZs zu schaffen, dass die Rolle der Stadt und ihrer Einwohner während der Besatzung zeigt. Von den 14.000 Einwohner*innen wurden die 8.000 Jüdinnen und Juden deportiert und etwa 3000 weitere Einwohner*innen aus der Stadt vertrieben, viele Bewohner*innen die in der Stadt blieben, mussten Zwangsarbeit leisten. Die Großmutter einer Freundin musste mit ihrer Familie beispielsweise aus dem Sperrbereich um das Konzentrationslager in einen anderen Teil der Stadt ziehen, hat als Zwangsarbeiterin in einer Wäscherei für Häftlingskleidung gearbeitetund wurde von ihrer Mutter als Kind mit Essen nach Monowice geschickt, um Essen für die Häftlinge in das Konzentrationslager zu schmuggeln. Ihre ist sicherlich nur eine von vielen Geschichten, die das Verhältnis der nichtjüdischen Einwohner*innen der Stadt zum Lager zeigen, die aber bald verlorengehen werden, weil immer mehr Zeitzeug*innen sterben.
Umgang mit der Geschichte:
Ich denke, dass ich während dieses Jahres ein besseres Verständnis der polnischen Geschichte und Perspektive auf den zweiten Weltkrieg entwickelt habe. Mein Eindruck ist, dass für das polnische Nationalbewusstsein neben der Religion die Geschichte sehr identitätsstiftend ist. Man ist stolz auf den polnischen Widerstand und fortbestehenden Nationalismus während der polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert, des zweiten Weltkriegs und auch unter dem kommunistischen Regime. So sind beispielsweise Symbole des polnischen Untergrundstaates während des zweiten Weltkriegs und der Armia Krajowa weit verbreitet. Sehr negativ wird aus polnischer Perspektive die Rolle der Sowjetunion und roten Armee im zweiten Weltkrieg gesehen. Gründe dafür sind die Aufteilung polnischer Territorien im Molotov-Ribbentrop Plan, die kontroverse Rolle der roten Armee während der Niederschlagung des Warschauer Aufstands durch die Deutschen und die Massenerschießung der polnischen Intelligenz durch das NKWD in Katyn. Während auf offizieller Ebene zwar der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung gesprochen wird, ist dieser Ausdruck innerhalb der Gesellschaft umstritten. Aus meiner Perspektive ist es wichtig, trotz einer Kritik des
Stalinismus und Erinnerung an seine Verbrechen die Singularität der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und -ideologie herauszustellen und auch die Rolle der roten Armee im Sieg gegen Deutschland zu würdigen.
Kontrovers werden außerdem polnisch-jüdische Beziehungen diskutiert. In Polen wurde auf offizieller Ebene nie mit den Deutschen kollaboriert und es gab einen starken und organisierten Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Es gab im Untergrund außerdem die Organisation Żegota, die polnische Juden unterstützte und Polen ist das Land, in dem die meisten Menschen die Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“ für die Unterstützung von Jüdinnen und Juden erhielten. Seit etwa 15 Jahren stoßen allerdings polnische Historiker*innen eine Debatte über Antisemitismus innerhalb der polnischen Bevölkerung, Denunziationen jüdischer Menschen während der Besatzung und Pogrome nach 45 an. Seit dem Machtwechsel in Polen gibt es Bestrebungen der Regierung, Vorfälle wie das Pogrom in Jedwabne, dass 1941 von polnischen Bürger*innen an Juden verübt wurde, zu relativieren. Ich denke, dass dies zeigt, wie wichtig es ist, über den Holocaust und zweiten Weltkrieg nicht nur aus nationaler Perspektive zu lernen,
sondern dass auch aus transnationaler Perspektive erinnert und über Antisemitismus und andere menschenverachtende Ideologien aufgeklärt werden sollte.
Katholische Weltjugendtage: Der Papst in Oświęcim:
Eine Herausforderung waren vor wenigen Wochen die katholischen Weltjugendtage, während der täglich 950 Besucher*innen in das Jüdische Museum und zum jüdischen Friedhof kamen. Meine Aufgabe war es, ihnen eine Einführung in die jüdische Geschichte der Stadt, die Ziele des Museums und die Synagoge zu geben. Besonders waren viele Gruppen an den Parallelen zwischen Christen- und Judentum interessiert, die sie in der Synagoge schon an den über dem Thoraschrein geschriebenen zehn Geboten erkennen konnten. Die Jugendlichen übernachteten meist in Familien in umliegenden Dörfern und ich verbrachte ein Wochenende bei der Familie einer Freundin in Broszkowice, wo eine argentinische Gruppe untergebracht war. Für viele der in dem Dorf Lebenden war dies eine sehr seltene Gelegenheit mit Menschen aus anderen Ländern in Kontakt zu kommen. Auch wenn in dem Dorf kaum jemand Englisch spricht, versuchten sie mit den Gästen zu kommunizieren, kochten für sie und tanzten am letzten Abend sogar gemeinsam (zu Kirchenmusik, aber auch Lady Gaga).
Ich erfuhr, dass es für viele polnische Katholik*innen eine Überraschung war, dass unter den Gruppen, die für den Weltjugendtag anreisten, so viele aus außereuropäischen Ländern wie Malaysia oder Syrien und dem Libanon kamen. Einerseits deswegen und auch daher, weil der Papst, der deutlich liberalere Ansichten als die Kirche in Polen vertritt, das Land dazu aufrief, Geflüchtete aufzunehmen, was hier eine große Öffentlichkeit fand, denke ich, dass die Weltjugendtage sehr positive Auswirkungen hatten.
ASF in Polen: Trilaterales Programm:
Am ASF Programm in Polen gefällt mir besonders, dass die Begegnung von Freiwilligen aus der Ukraine und aus Deutschland ermöglicht wird . Ich lebte und arbeitete mit Nataliia zusammen und reiste während des Jahres zweimal in die Ukraine. Im April fuhr ich mit Mykhailo, einem ukrainischen Freiwilligen aus dem letzten Jahr und Karolina, einer Freundin aus dem Jüdischen Museum, nach Lviv. Lviv war vor dem Krieg polnisch und wurde dann nach der Westverschiebung Polens Teil der Ukraine. Dadurch gleicht Lviv äußerlich sehr einer polnischen Stadt, ist aber innerhalb der Ukraine politisch eine der „ukrainischsten“ Städte. Neben vielen ukrainischen Flaggen sieht man dort auch Flaggen der UPA, der ukrainischen Armee, die unter Bandera für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpfte, aber auch tausende Juden und Polen ermordete. Die historische Bewertung der UPA ist in der Ukraine sehr umstritten, sie wird aber in Teilen als Symbol gegen die Sowjetunion und Russland gefeiert. Lviv ist eine Stadt, in der vor dem Krieg etwa 100.000 Juden lebten, von der jüdischen Geschichte sieht man heute in der Stadt allerdings leider kaum noch etwas, der jüdische Friedhof ist überwachsen und wird wie ein Park genutzt.
Ein anderes Bild der Ukraine bekam ich, als ich mit Nataliia nach Kiew und zu ihrer Familie auf ein Dorf in der Nähe von Lubny östlich von Kiew fuhr. Kiew beeindruckte mich sehr, auf Grund der vielen Kontraste. So sieht man auf der einen Seite des Flusses Dnepr, der durch die Stadt fließt, wunderschöne orthodoxe Kirchen und monumentale Bauwerke, auf der anderen Seite endlose Plattenbauten ohne jede Grünfläche dazwischen. In dem Dorf, in dem Nataliias Familie lebt, sahen wir Überreste der Kolchose, in der die Bäuerinnen und Bauern arbeiten mussten, und ich erlebte den Prozess der „Dekommunisierung“ sehr bildlich, als wir das erst kürzlich verschwundene Lenindenkmal in Plastikfolie gewickelt hinter dem Rathaus entdeckten. Dass ich mit Nataliia zusammen in die Ukraine reiste, ermöglichte mir einen viel tieferen Einblick in das Land und die aktuelle Situation zu bekommen. Ich möchte mich gerne noch weiter mit der ukrainischen Perspektive auf das 20. Jahrhundert und der Situation des Landes heute beschäftigen. Zusätzlich zu den Reisen waren die ASF Seminare eine weitere tolle Gelegenheit Jugendliche aus der Ukraine kennenzulernen, mit ihnen zu diskutieren und sich anzufreunden.
Parada Równósci: LGBT Pride in Warschau:
Ein besonders positives Erlebnis für mich in den letzten Monaten war die Parada Równósci, die LGBT Pride in Warschau, die das erste Mal 2001 als erste Pride Parade in Mittel- und Osteuropa stattfand. Dieses Jahr hatte die Parade eine besondere Relevanz, weil das Anliegen gegen Diskriminierung von LGBT mit anderen Forderungen, wie dem Recht auf
Schwangerschaftsabbruch verknüpft wurde. Die neue Regierung versucht, das ohnehin sehr strikte Gesetz zu Schwangerschaftsabbrüchen weiter zu verschärfen und Frauen selbst bei Gefährdung der eigenen Gesundheit oder nach einer Vergewaltigung zu verbieten, einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen. Gegen dieses Vorhaben regt sich aber eine Opposition und es fanden in den vergangenen Monaten mehrere feministische Demonstrationen und Petitionen statt. Eine Freundin und ich nahmen an der Parade teil und es war gerade angesichts der politischen Situation in Polen ein sehr schönes Gefühl, mit vielen tausenden Menschen zu demonstrieren und zu feiern. Außerdem machten wir keinerlei negative Erfahrungen, Fußgängerinnen schauten nur interessiert und fotografierten die Parade, es gab aber keinerlei Anfeindungen oder Angriffe.
Zusammenfassung:
Insgesamt war der Freiwilligendienst in Oświęcim für mich eine großartige Erfahrung. Ich habe viel über die polnische Gesellschaft gelernt, aber auch erfahren, was es bedeutet, in einem Land zu leben, in dem man zunächst die Sprache nicht versteht und wie wichtig es in dieser Situation ist, Hilfe von anderen zu bekommen und anzunehmen. Ich habe neue Freundschaften geschlossen und auch gesehen, dass es viele viele Menschen in Polen gibt, die nicht dem Bild des konservativen Landes entsprechen. Sicher werde ich noch häufig nach Oświęcim zurückkehren, das Jüdische Museum und Cafe Bergson und meine Freund*innen dort besuchen. Ab Mitte Oktober setze ich mein Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität in Berlin fort.
Vielen Dank an all meine Pat*innen und an Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, dass Sie mir dieses Jahr ermöglicht haben! |