Mut zur Mündigkeit
Gastbeitrag von Jan Korte für ZEIT Online
"Europa steht am Scheideweg" – jeder Journalist und jeder Politiker hat in den vergangenen Monaten schon etwas ähnliches geschrieben oder gesagt. Und jenseits des Phrasenartigen ist das ja auch richtig. Europa steht vor der Entscheidung zwischen rechtem Nationalismus oder weltoffenem Sozialstaat. Wer Europa retten will, muss die Regierung von Merkel/Schäuble/Gabriel ablösen. Sie sind es, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass Europa zerfällt – Stichwort Austeritätspolitik.
Nach Lage der Dinge bräuchte man für diese Rettung in Deutschland drei Parteien: SPD, Linke und Grüne. Mal angenommen, es würde rechnerisch reichen und die SPD würde etwas ganz Neues entdecken – politischen Mut – dann könnte man daraus schon etwas Fortschrittliches machen: Man kann eine Bürgerversicherung einführen, man könnte damit anfangen keine Waffen mehr in Krisengebiete zu liefern, die Leiharbeit würde zurückgedrängt, mit einem gewaltigen Investitionsprogramm würden erst mal alle Schulen und Kitas auf Vordermann gebracht werden. Und man könnte beginnen, den obszönen Reichtum der Wenigen an die vielen, die einfach zu wenig haben, zu verteilen. Kulturell wäre es ansonsten ein Wert an sich, die AfD-Kopie CSU aus der Regierung zu halten.
Man kann also erkennen, dass es durchaus viele Gründe für eine Mitte-Links-Option gibt. Doch seit der Saarland-Wahl scheint vor allem bei SPD und Grünen die Courage abhanden zu kommen, ernsthaft um eine politische Mehrheit für diese Ziele zu kämpfen. Kanzlerin Angela Merkel kann sich nach einer kurzen Zeit der Ungewissheit wieder entspannt zurücklehnen und die internationale Krisendompteurin geben. Wenn die Konservativen die Ihren vor Übermut zu warnen beginnen, ist das jedenfalls immer ein schlechtes Zeichen für den fortschrittlichen Teil des politischen Spektrums.
Allerdings sollte genauer analysiert werden, warum es gerade so schwierig ist. Nachdem alle drei Parteien, mit Ausnahme einiger jüngerer Abgeordneter, in den letzten Jahren kaum etwas für das Entstehen einer Mitte-Links-Option unternommen hatten, begannen immerhin vor einem Jahr zaghafte Lockerungsübungen. Besser spät als nie. Die Linke hat in den letzten Monaten deutlich und mehrfach gesagt, dass sie bereit ist, zu regieren, wenn es zu einem Politikwechsel kommt. Und das über breite Grenzen des Spektrums der Linkspartei, was auch keine Selbstverständlichkeit ist. Und man konnte an den vergangenen Wahlen erkennen: Viele Leute wollen Glaubwürdigkeit und eine zuverlässige Politik.
Als die SPD zur Wahl im Saarland offen mit der Option einer Regierung jenseits der CDU kokettierte, verlor sie ein Prozent – konnte ihr Ergebnis also fast halten. Dennoch ging sie der Erzählung der Demoskopen auf den Leim, die Mitte-Links-Option würde ihr entscheidend schaden. Aber weder zur Wahl in NRW noch in Schleswig-Holstein hat ihr das erklärte Ziel, die Linke aus dem Landtag zu halten, genutzt. Im Gegenteil, das Flirten mit einer Ampel oder gar einer großen Koalition führte zu gewaltigen Verlusten. Die SPD katapultierte sich in die Opposition. NRW reanimierte den längst totgeglaubten schwarz-gelben Alptraum.
Bei zwei auf dem Baum
Dass die SPD dieses Spiel nun auch auf der Bundesebene weiterspielt und dabei von den Grünen assistiert wird, ist entweder Lernunwilligkeit oder doch politische Degeneration. Sich freiwillig der einzigen Option zu berauben, die die Kernziele des eigenen Wahlkampfes durchsetzbar machen würde, kostet Glaubwürdigkeit und Motivation bei Wählern wie Wahlkämpfern. Wer wie Martin Schulz einen Gerechtigkeitswahlkampf führen will – was absolut sinnvoll wäre – und aber gleichzeitig signalisiert, dass er am liebsten mit der FDP koalieren möchte, wird schlicht nicht mehr ernst genommen. Und die Grünen? Die räumen zurzeit jeden klaren Standpunkt, damit sie mit jedem koalieren können, der bei zwei nicht auf dem Baum ist (am liebsten jedoch mit der Union). Gemeinsam ist SPD und Grünen, dass sie im Zweifel weiterhin CDU/CSU an der Regierung halten werden. Dagegen kann man bei der Linken – egal wie man sie findet – sicher sein, dass sie auf keinen Fall Merkel wählen wird.
Aus all dem aber nun abzuleiten, dass Die Linke selbst wieder in ihre alten Oppositionsmuster und vordergründigen Abgrenzungsrituale zurückfallen müsste, schadet ihr und dem Ziel, eine Mehrheit für politische Veränderung zu gewinnen. Nein, die Linke muss das Ziel der Veränderung offensiv den Wählerinnen und Wählern anheim stellen, ohne sich in Konstellationsüberlegungen zu verlieren. Sie entscheiden darüber, ob Merkels Weiter-so gewinnt oder es einen politischen Impuls gibt für bezahlbare Mieten, armutsfeste Renten, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, ein solidarisches Gesundheitssystem, gute Arbeit, gerechte Steuern, keine Aufrüstung – also ein soziales, friedliches Land. Wir haben als Linke zumindest konkrete Vorschläge für eine wirkliche Wende gemacht, bei der die kleinen Leute, die kleinen und mittleren Einkommen entlastet werden und die Vermögenden sich angemessen an der Finanzierung des Staates beteiligen sollen.
Zum Glück links der Mitte zwingen
Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer und der Historiker Peter Brandt haben kürzlich völlig richtig festgestellt, "dass sich große Teile der sozialdemokratischen und grünen Führungsschichten aber ohne Not freiwillig in die ewige Gefangenschaft von neoliberalen und neokonservativen Politikkonzepten und -strategien begeben, deren praktische Ergebnisse nach 25 Jahren des wilden Experimentierens niemanden überzeugen, ist nichts als selbst verschuldete Unmündigkeit."
Die Wählerinnen und Wähler haben es jetzt in der Hand, ob sie mit einer starken Linken SPD und Grüne aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit herausholen und zu ihrem Glück links der Mitte zwingen. Klar, ohne Risiko ist das nicht, aber besser als die ewige große Koalition allemal.
Der Gastbeitrag von Jan Korte, Jahrgang 1977, stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag und Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung, erschien zuerst auf ZEIT Online.