"Wider die Banalisierung der Verbrecher"
Erschienen in "neues deutschland" vom 29.3.2012
Spätestens mit Christopher Brownings Untersuchung über das Reserve-Polizeibataillon 101 geht die NS-Täterforschung fast überwiegend von »ganz normalen« Tätern aus. Sei es die »Banalität« eines Eichmanns in der Charakterisierung von Hannah Arendt oder die Vorstellung, die Organisatoren und Exekutoren des Holocaust lebten und liebten ganz »normal«, während sie gleichzeitig sechs Millionen Frauen, Kinder und Männer umbrachten - diese heute gängige Vorstellung ist zwar ein Fortschritt gegenüber der Ansicht in den 50er und 60er Jahren, als die Mörder noch vorrangig als proletarische Gewalt- und Exzesstäter beschrieben worden sind, womit die Funktionsträger und Eliten de facto freigesprochen wurden. Mittlerweile jedoch ist dieses »Normalitätsparadigma« selber zu einem Problem geworden.
Ein vom Hannoveraner Sozialpsychologen Rolf Pohl und Politikwissenschaftler Joachim Perels, ebenfalls aus Hannover, herausgegebener Band versucht eine deutlichere Differenzierung. Im Kern geht es hier um eine geschichtspolitische Debatte. Denn, so machen die Herausgeber in der Einleitung klar, die dominierende Täterforschung ist »in Gefahr, die im kritiklos übernommenen Begriff der Normalität negierte antizivilisatorische Funktion des Systems der NS-Täter - vom Anstaltsmord, den mobilen Tötungseinheiten bis zu den Massenvernichtungsstätten - zu verkennen und, wie Saul Friedländer schreibt, die ›Fassungslosigkeit zu domestizieren‹.« Die in diesem Band versammelten Psychologen, Sozialpsychologen, Historiker und Politologen erteilen dem Mainstream, der den Thesen des Sozialpsychologen Harald Welzer vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen folgt und die vor allem durch den ZDF-Historiker Guido Knopp publik gemacht werden, eine Absage.
Rolf Pohl skizziert in seinem Beitrag, dass der Gegensatz zur Normalität nicht zwangsläufig die Pathologie ist, sondern viele Faktoren in der Täterforschung zu berücksichtigen seien. Gleichwohl waren die Naziverbrechen nichts anderes als »sinnlose Grausamkeit«. Es sei stets auch der Blick der Opfer einzunehmen. Der Zivilisationsbruch Auschwitz ist Beleg für »das Schwinden von Rationalität und Moral überhaupt«. Die Täter haben gezeigt, wie aus Menschen Tiere werden, jeglicher Empathie verlustig. Pohl macht darauf aufmerksam, dass Täter wie der Auschwitz-Kommandant Höß selbst an der Legende ihrer Normalität gestrickt haben. Nach Ansicht des Wissenschaftlers, kann »geistige Normalität durchaus mit gravierenden sozialen, eigentlich aus der psychiatrischen Krankheitslehre bekannten Wahrnehmungs- und Verhaltensstörungen einhergehen«. Schlussendlich muss die NS-Gesellschaft als »kollektiver Wahn« verstanden werden, um das Ausmaß des Verlustes an humaner Orientierung ansatzweise nachvollziehen zu können.
Perels zeichnet engagiert nach, wie in der vorherrschenden Literatur der rechtszerstörerische Charakter der NS-Diktatur und die Dehumanisierung missachtet werden. Scharf greift er Welzer wie auch den 2006 verstorbenen Joachim Fest an, die »die Binnenperspektive der NS-Täter zum Bezugsrahmen« nehmen, der »die moralisch und rechtlich begründete Negation des staatlichen Mordens ausschließt«. Doch auch damals war das Ermorden von Millionen Menschen »die Negation der Moral als solcher, die Umkehrung der 10 Gebote Gottes«, wie Hannah Arendt schrieb.
Axel von der Ohe untersucht die »Kriminologie der NS-Täter« und rechnet gründlich mit der »Schutzbehauptung« des Befehlsnotstandes ab. Nele Reuleaux beleuchtet psychische Motive. Und Angela Moré befasst sich mit der Schuldabwehr von Nazi-Tätern und argumentiert überzeugend gegen Welzer, der meint, »das gesellschaftliche Normensystem und Rechtsverständnis des Nationalsozialismus habe für die Täter den gültigen und verbindlichen normalen Rechtsrahmen dargestellt«. Derart werde, so Moré in ihrem exzellenten Beitrag, die Schuldabwehr der Täter übernommen. Jene hingegen wussten sehr wohl, dass sie Unrecht begingen - was ihre panische Furcht vor Vergeltung beweise.
Moré unterstreicht den antihumanen Charakter des Nationalsozialismus: »Diese Verachtung des Menschlichen - der Regungen, Gefühle, Schwächen, Zweifel und vor allem des Mitgefühls - prägen die nationalsozialistischen Täter, die gelernt haben, gerade dies als Stärke zu bewundern. Die These von der Normalität der Täter trägt dem nicht Rechnung, sondern leitet allein aus der alltäglichen Funktionsfähigkeit deren psychische Gesundheit ab.«
Perels/Pohl haben in verdichteter Form ein Buch herausgegeben, das wirklich Neues enthält und von großen Leidenschaft für einen kritischen Umgang mit der Vergangenheit geprägt ist. Zugleich ist es eine Kampfansage an apologetische Tendenzen auch in der Wissenschaft.
Rolf Pohl/Joachim Perels (Hg.): Normalität der NS-Täter? Offizin-Verlag, Hannover. 148 S., br., 14,80 €.