Umgang mit NS-Vergangenheit aufarbeiten, Akten ohne Einschränkung öffnen
Etliche Nazi-Täter kamen in der jungen Bundesrepublik in höchste Ämter und konnten weitgehend unbehelligt ihre alten Karrieren in der Bundesrepublik fortsetzen. Die Behauptung der Bundesregierung, Bund und Länder hätten die Aufarbeitung der NS-Zeit "von Beginn an unterstützt", ist deshalb absurd, wissenschaftlich nicht haltbar und politisch fahrlässig. Um diese Verstrickungen aufzuarbeiten, ist es an der Zeit, das Trauerspiel der letzten Jahre zu beenden und alle Akten mit NS-Bezug ohne Einschränkungen zu öffnen.
204. Sitzung vom 8.11.2012
Beratung der Antwort Bundesregierung auf Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE. "Umgang mit der NS-Vergangenheit" Drs. 17/8134
Jan Korte [DIE LINKE]:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute, einen Tag vor dem 9. November, führen wir eine wichtige Debatte, die aktueller denn je ist. Wieso? Vor Kurzem wurde bekannt, dass der BND jahrelang den Aufenthaltsort von Adolf Eichmann kannte. Geschehen ist nichts. Klaus Barbie, der Schlächter von Lyon, verantwortlich für 7 591 Deportationen und 4 342 Hinrichtungen, wurde 1966 Informant des BND. Er erhielt 500 DM pro Monat. Carl-Theodor Schütz, ehemaliger SS-Hauptsturmführer, befehligte die Hinrichtung von 335 italienischen Geiseln. Wie gerade bekannt wurde, wurde er hauptamtlicher Abteilungsleiter beim BND. Es hieß, er sei eine charakterlich einwandfreie Persönlichkeit.
[Zurufe von der LINKEN: Pfui!]
So steht es in seiner Personalakte, die erfreulicherweise einmal nicht geschreddert wurde.
In der Antwort auf die Große Anfrage der Linken zum Umgang mit der NS-Vergangenheit sagt die Bundesregierung in ihrer Einleitung, ich darf zitieren: "Bund und Länder haben diese Aufarbeitung von Beginn an … unterstützt." Diese Behauptung ist
[Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Falsch!]
absurd. Sie ist wissenschaftlich nicht haltbar, und sie ist im Übrigen politisch fahrlässig und inakzeptabel.
[Beifall bei der LINKEN]
Die 50er- und 60er-Jahre waren geprägt durch das Schweigen und die große Rückkehr der Täter in Amt und Würden. Ralph Giordano nannte dies: "Der große Frieden mit den Tätern". Besonders bedauerlich ist gewesen, dass dies von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wurde.
Die Abwehr und Beendigung der Entnazifizierung war ein wesentlicher Kern der frühen bundesdeutschen Politik - im Hintergrund übrigens gesteuert und vorangetrieben von Leuten wie Werner Best, dem ehemaligen Justiziar im Reichssicherheitshauptamt. Diese "Unfähigkeit zu trauern", wie es die Mitscherlichs beschrieben haben, beschädigte die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik; wir haben auch heute noch mit ihr zu tun.
Die Bundesregierung widerspricht sich in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage übrigens selber. Das war eben keine reine Erfolgsgeschichte. Die Bundesregierung listet auf: Ein Bundeskanzler und 26 Bundesminister waren NSDAP-Mitglieder. Noch erhellender ist die Antwort auf diese Frage, ich zitiere sie: "Wie viele Angestellte, Beamte, Mitarbeiter in Institutionen des Bundes sind nach 1949 aufgrund ihrer NS-Vergangenheit aus dem Dienst entlassen worden?" Die Antwort der Bundesregierung, Zitat: "Für den Verantwortungsbereich des AA wurden explizit aufgrund ihrer Tätigkeit im 'Dritten Reich' drei Personen aus dem Auswärtigen Dienst entlassen. Drei! Man stelle sich das einmal vor! Wer die Ergebnisse der Studie »Das Amt» zur Kenntnis genommen hat, weiß, welch verbrecherischen Charakter das Auswärtige Amt hatte.
[Beifall bei der LINKEN]
Im Bereich des Bundesjustizministeriums wurde eine Person entlassen, und beim BKA wurden ganze drei Personen aufgrund einer NS-Belastung entlassen. Das Fazit ist erschreckend: Offenbar war eine NS-Vergangenheit der Schlüssel, um einen guten Posten in der frühen Bundesrepublik zu bekommen.
Noch erschreckender sind die Zahlen, die die Bundesregierung uns zum Thema "Berufsbeamtentum und öffentlicher Dienst" mit auf den Weg gibt. Der öffentliche Dienst wurde von den Alliierten ja als besonders naziverseucht eingestuft. Deswegen wurden die Beamten dort zu Recht aus Amt und Würden herausgedrängt. Infolge der sogenannten 131er-Regelung des Grundgesetzes - das war ein Kernanliegen der damaligen Politik, insbesondere der Konservativen im damaligen Bundestag - kehrten allerdings alle Berufsbeamten inklusive der Gestapo-Beamten zurück an die Schaltstellen der jungen Bundesrepublik. Ein paar Zahlen, Stichtag 1955: 77,4 Prozent der Besetzungen im Verteidigungsministerium erfolgten aufgrund der 131er-Regelung; im Vertriebenenministerium waren es 71 Prozent, und im Wirtschaftsministerium waren es 68,3 Prozent.
Das Ausmaß des Skandals, dass diese Täter straflos davonkamen, wird erst richtig deutlich, Kollege Kauder, wenn Sie sich die Frage stellen: Wie hat es eigentlich auf die Emigranten und die Opfer gewirkt, dass die Täter wieder in Amt und Würden kamen? Der Historiker Norbert Frei sagt zur 131er-Regelung kurz, knapp und richtig: "Die Hitler den Staat gemacht hatten kaum zehn Jahre später waren sie, soweit nicht in Pension, fast alle wieder in Amt und Würden." Das sollte auch Sie aufregen.
[Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN]
Jetzt sagen Sie bestimmt: Das ist vielleicht alles richtig, aber trotzdem war es eine demokratische Erfolgsgeschichte. Das war es aber leider nicht; denn die Nazirichter waren nicht nur zurück, sondern sie prägten natürlich auch die Rechtsprechung in diesem Land. Die Rechtsprechung wurde eben nicht geprägt von Leuten wie Fritz Bauer oder Ernst Fraenkel, der den Nationalsozialismus trefflich als System "bürokratisierter Rechtlosigkeit" analysierte.
Ich will das konkret belegen an der Gehilfenrechtsprechung: Der Kommandeur der Einsatzgruppe 8, der die Ermordung von 15 000 Juden befohlen und eigenhändig mit geschossen hatte, wurde als Gehilfe, nicht als Täter verurteilt. Der Adjutant von Auschwitz, der selber an Selektionen teilnahm, wurde nicht als Täter, sondern als Gehilfe verurteilt. Die Faustformel in der frühen Bundesrepublik war: Je größer die Zahl der Ermordeten und je monströser die Tat gewesen ist, umso geringer die Strafe. Es muss uns doch umtreiben, dass das bis heute nicht vollständig aufgearbeitet ist.
[Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Iris Gleicke (SPD)]
Die Folgen sind bekannt. Deswegen muss es jetzt darum gehen, alles offenzulegen. Ich kann nicht verstehen, dass die Bundesregierung in einer Drucksache zur Aufarbeitung der Geschichte des Verfassungsschutzes folgende Auflage macht, ich zitiere:
"Das BfV begleitet die Drucklegung des Buches" - über seine Vergangenheit - "und entscheidet über presseöffentliche Maßnahmen zu seiner Bewerbung. Während der Projektphase verzichtet der Projektnehmer" - also die Wissenschaftler - "auf die Veröffentlichung von Teilergebnissen des Projekts und auf öffentlichkeitswirksame Stellungnahmen zum Projekt,
[Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Tja, Freiheit der Wissenschaft!]
sofern letztere nicht mit der Projektleitung im BfV abgesprochen oder von dieser ausdrücklich gewünscht sind." Das ist Zensur. Das ist der Sache nicht angemessen. Hier müssen wir dringend etwas ändern.
[Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN]
Ganz kurz noch zu dem Antrag von CDU/CSU, FDP und bedauerlicherweise auch SPD. Es stehen sicherlich einige richtige Sachen in diesem Antrag, zum Beispiel die Forderung, ein forschungsfreundliches Klima zu schaffen. Dort steht auch, "dass im Westteil Deutschlands und Berlins der Aufbau einer stabilen freiheitlich-demokratischen und sozial-marktwirtschaftlichen Ordnung früh gelungen ist" - Zitat Ende. Das ist zum Teil richtig. Aber es fehlt etwas, nämlich ein Hinweis darauf, wie zum Beispiel mit Willy Brandt oder Fritz Bauer in der frühen Bundesrepublik umgegangen worden ist. Wie kann man als SPD so etwas unterschreiben? Das kann ich nicht verstehen.
[Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN]
Ich möchte auf einen weiteren Aspekt eingehen. Wir haben einen Antrag zur Anerkennung des Widerstandes der Kommunistinnen und Kommunisten eingebracht. Wir wissen aus der Geschichte, dass es im Zuge eines wirklich maßlosen Antikommunismus Vorgänge gegeben hat, die heute nicht mehr akzeptabel sind. Durch das Bundesentschädigungsgesetz wurden kommunistischen Widerstandskämpfern, die zum Teil jahrelang im Konzentrationslager gesessen haben, in den 50er- und 60er-Jahren ihre Anerkennung und Würde genommen. Außerdem wurde damit natürlich auch die Unrechtsprechung gegenüber kommunistischen Widerstandskämpfern im Nachhinein legitimiert. Wir möchten mit unserem Antrag auf diese Fehlentwicklung aufmerksam machen. Wir wollen, dass auch heute der Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten vom Bundestag anerkannt wird, so wie es Richard von Weizsäcker übrigens schon 1985 eingefordert hat.
[Volker Kauder (CDU/CSU): Widerstand an der Mauer! Schießbefehl! - Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): So etwas zu vergleichen! Schämen Sie sich nicht?]
Der Spiegel schreibt - ich darf zitieren: "Die Zahl der zwischen 1951 und 1968 gefällten Urteile gegen Kommunisten lag fast siebenmal so hoch wie die gegen NS-Täter obwohl die Nazis Millionen Menschen ermordet hatten, während man westdeutschen Kommunisten politische Straftaten wie Landesverrat vorwarf." Das kann doch nicht die letzte Position sein! Es gibt eine Unteilbarkeit des Widerstandes, und zwar vom sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstand der Arbeiterbewegung bis zum Widerstand vom 20. Juli 1944. Dem können sich jetzt endlich auch die Konservativen beugen, indem sie diese wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Kenntnis nehmen und den Widerstandskämpfern ihre Würde zurückzugeben.
[Beifall bei der LINKEN]
Ich fasse zusammen: Ich glaube, der Bundestag, die Bundesregierung und die Öffentlichkeit sollten nun darangehen, die Aufarbeitung der »zweiten Schuld», wie sie Ralph Giordano genannt hat, entschlossen anzugehen, und zwar ohne Verzögerung und ohne Reglementierung.
[Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Stasi-Unterlagen-Gesetz!]
Wir sollten darüber nachdenken, wie diese Vorgänge auf die Opfer gewirkt haben. Ich will deutlich sagen: Wir müssen auch über politische Verantwortung reden, auch ganz aktuell, und beispielsweise die Frage beantworten: Wer trägt die politische Verantwortung dafür, dass im Jahre 1996 und im Jahre 2007 beim BND Akten über die NS-Verstrickungen zum Fall Alois Brunner geschreddert worden sind? Das muss uns als Parlamentarier alle gemeinsam umtreiben!
[Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
Wir sollten heute auch der Minderheiten gedenken - zu ihnen gehörten unter anderem Fritz Bauer, Martin Niemöller, Eugen Kogon und Gustav Heinemann - die in der Bundesrepublik damals sehr alleine gestanden haben. Ihnen sollten der Dank und die Anerkennung des ganzen Bundestages gelten. Sie haben nämlich vieles sehr viel früher erkannt als einige andere.
Zum Schluss möchte ich ein Zitat vortragen. 1999 sagte Joachim Perels, ein bekannter Politikwissenschaftler und Sohn von Friedrich Justus Perels - er war einer der Widerständler vom 20. Juli 1944 und Justiziar der Bekennenden Kirche:
"Es ist an der Zeit, sich der Erkenntnisse der überwiegend misslungenen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Schreckenssystems in der jungen Bundesrepublik zu stellen. Die kritische Reflexion dieser großen Blockierung gehört zur Selbstfindung unserer rechtsstaatlichen Demokratie."
Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich hoffe auf große Zustimmung zu den heute vorliegenden Anträgen.
Vielen Dank.
[Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]