Menschen in Not muss geholfen werden
Im Interview der Woche auf linksfraktion.de sprechen die beiden stellvertretenden Vorsitzenden der Fraktion, Heike Hänsel und Jan Korte, über die Situation der Flüchtlinge in Deutschland und Europa. Scharf verurteilen sie das Gebaren verbaler Brandstifter und die Flüchtlingspolitik der EU. Teile der Bundesregierung distanzierten sich nicht eindeutig von rechter Hetze, moniert Jan Korte. Heike Hänsel kritsiert die neue Abschottungspolitik der EU als menschenverachtend.
Über eine Million Menschen sind in diesem Jahr als Flüchtende nach Deutschland gekommen. Einerseits werden sie vielerorts herzlich und mit viel Engagement insbesondere von Ehrenamtlichen in Empfang genommen. Andererseits sind sie Zielscheibe von Hass und Gewalt – geäußert in Brandanschlägen, Angriffen, Drohungen und Hassreden. Wenn Kanzlerin Merkel an ihrem "Wir schaffen das" festhält, mag das realistisch sein hinsichtlich der Versorgungskapazitäten Deutschlands. Aber wie schaffen wir es als Gesellschaft, dem Druck von Rechts nicht nachzugeben?
Jan Korte: Das Problem ist nicht in erster Linie der Druck von rechts, sondern dass Vertreter sogenannter Volksparteien praktisch in vorauseilendem Gehorsam nach rechts gerutscht sind. Wenn ein sächsischer AfD-Funktionär hetzt ist das halb so wild, wenn er damit im Abseits steht und Widerspruch aus den demokratischen Parteien und aus der Gesellschaft erntet. Diesen Konsens der Demokraten haben aber Leute wie CSU-Chef Horst Seehofer nun verlassen. Teile der Bundesregierung, aus der CDU und aus der SPD, distanzieren sich nicht eindeutig von rechter Hetze, sondern reproduzieren das elende Gejammer und die Rechtfertigungen, warum sie Menschen in Not nicht helfen wollen. Das muss ein Ende haben. Spätestens angesichts der über 500 Brandanschläge auf Unterkünfte in diesem Jahr sollten alle Politiker mit funktionierendem Verantwortungsbewusstsein zurückkehren zum Konsens, mit Rassisten weder gemeinsame Sache zu machen noch deren Rhetorik zu teilen.
Konsens in der Regierungskoalition scheint zu sein, die Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge reduzieren zu wollen. Dazu hat die Bundesregierung der Türkei Hilfen in Milliardenhöhe für die Versorgung der Flüchtlinge vor Ort zugesagt. Das klingt ja zunächst positiv, oder?
Heike Hänsel: Was hier als Hilfe für die Flüchtenden verkauft wird, ist Teil eines schmutzigen Deals mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der nichts mit humanitären Zielen zu tun hat. Die türkische Regierung erhält drei Milliarden Euro, im Gegenzug soll sie nun ihre Küsten in der Nähe zu den griechischen Inseln strenger kontrollieren. Die ersten Folgen sind sichtbar: Flüchtlinge werden von der türkischen Grenzpolizei verhaftet und interniert oder wieder zurück nach Syrien und Irak geschickt. Das verstößt klar gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Mittlerweile nehmen die Menschen noch längere und gefährlichere Übersee-Passagen in Kauf, es sind bereits mehr Meldungen über ertrunkene Flüchtlinge vor Lesbos und Chios zu verzeichnen. Die EU ist mitverantwortlich für diese Toten. Gleichzeitig schauen Bundesregierung und EU weg, wenn es um die neue Militäroffensive im Südosten der Türkei geht, wo Erdogan Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt.
Die Befürworter beharren darauf, dass etwas getan werden musste. Was halten Sie dem entgegen?
Heike Hänsel: Es ist dabei immer von dem "Zustrom" die Rede, was maßlos übertrieben ist. Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Gerade einmal fünf Prozent davon kommen nach Europa. Menschen auf der Flucht muss geholfen werden. Das ist unsere humanistische Verpflichtung, das besagt die Genfer Flüchtlingskonvention und das muss unser zivilisatorischer Anspruch sein. Deshalb sind wir strikt gegen eine Politik der neuen Zäune und Mauern in Europa. Denn erstens ist sie menschenverachtend, weil sie Flüchtenden – und ihnen viele Frauen und Kinder – in einer existenziellen Notsituation Hilfe verwehrt. Und zweitens, weil sie rein gar nichts an den Fluchtgründen ändert. Gleichzeitig gehen die deutschen Rüstungsexporte in den Nahen Osten weiter und die Bundeswehr wird in einen neuen Krieg nach Syrien geschickt. Auch die zerstörerische Freihandelspolitik der EU wird vorangetrieben. Wir brauchen dringend eine friedliche Außenpolitik statt einen neuen sogenannten Krieg gegen den Terror.
Europa ist sich mehr als uneins in der Flüchtlingspolitik. Der kleinste gemeinsame Nenner scheint zu sein, Frontex aufzurüsten und die Außengrenzen dicht zu machen. Eine Bankrotterklärung der europäischen Idee?
Heike Hänsel: Naja, was ist die europäische Idee? Liberté, Egalité, Fraternité? Die EU hat diesen aufklärerischen Anspruch doch gar nicht zu ihrer rechtlichen Grundlage gemacht. Die europäischen Verträge sprechen zuallererst von den Grundfreiheiten des Kapitals und der Unternehmer. Soziale Gleichheit ist nicht das politische Ziel, diese EU ist im Kern neoliberal. Innerhalb Europas konnten bisher immer nur ausgewählte Bürger und Bürgerinnen reisen, für Menschen von Ländern außerhalb der EU sind Visa nur schwer zu haben. Dies wird nun durch die neue Abschottungspolitik mit Aufstockung der Frontex-Einsatzkräfte und dem Militäreinsatz im Mittelmeer EUNAVFOR-MED nur noch konsequenter fortgeführt. Weil Staaten wie Griechenland mit massiven sozialen Problemen zu kämpfen haben und zusätzlich mit einem Großteil der Flüchtenden konfrontiert sind, will die Europäische Kommission nun auch noch die Souveränität dieser Mitgliedsstaaten einschränken und sich das Recht auf Interventionen einer aufgerüsteten Frontex-Grenztruppe nehmen. Dagegen müssen wir uns massiv wehren.
Die Herausforderungen in Deutschland bleiben, sowohl hinsichtlich der Registrierung als auch der menschenwürdigen Unterbringung, dem Zugang zu Bildung und Arbeit oder Integration. Dabei gibt es viele Ängste, insbesondere derer, die bereits jetzt zu den Benachteiligten gehören, keine bezahlbare Wohnung finden, in Langzeitarbeitslosigkeit festsitzen oder von ihrer Arbeit nicht leben können. Es gibt das Gefühl, dass der Staat versagt. Sind diese Ängste unbegründet?
Jan Korte: Es ist doch kaum zu fassen, dass sich ein Staat wie unserer angesichts solcher vergleichsweise geringer Herausforderungen überlastet zeigt. Man muss sich dazu ja nur ansehen, mit welchen Aufgaben die Nachbarstaaten von Syrien und Irak konfrontiert sind. Die Ursache für die heutigen Zustände sind nicht die zu uns geflüchteten Menschen, sondern die Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte, die auf Einsparungen und Personalabbau in den Behörden gesetzt hat, die den sozialen Wohnungsbau dem Marktprinzip geopfert hat, auf Privatisierungen gesetzt hat statt die Kommunen stark zu machen. Diese Politik müssen wir umkehren. Wir brauchen dringend ein Investitionsprogramm für Bildung, für bezahlbaren Wohnraum, für sozial funktionierende Kommunen. Solange es ein erhebliches Gerechtigkeits- und Perspektivendefizit in unserer Gesellschaft gibt, interessieren sich die Leute weniger für die schwarze Null von Schäuble, dafür aber eher für eine wie Björn Höcke.
Und doch stehen Länder und Kommunen Anforderungen gegenüber, die nur schwer allein zu stemmen sind. Welche Unterstützung müssten sie bekommen – nicht nur allein in Sachen Flüchtlingsaufnahme?
Jan Korte: Die Kommunen brauchen vor allem Verlässlichkeit und klare Ankündigungen, wann sie sich um wie viele Menschen kümmern müssen. Und sie brauchen dafür auch möglichst schnell und unbürokratisch Geld, weil es für manche Kommunen sehr schwierig ist, in Vorleistung zu gehen. Das ist halt das Problem, wenn Jahre lang jeder Euro umgedreht werden musste, was DIE LINKE ja seit Jahren kritisiert. Die Voraussetzungen vor Ort sind entscheidend darüber, wie gut Integration funktioniert, wie sich der demografische Wandel auswirkt und auch wie gut der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft funktioniert. Hier zu investieren, wird sich in der Zukunft um ein vielfaches auszahlen.
In fünf Bundesländern stehen im kommenden Jahr Landtagswahlen an, in zwei weiteren Kommunalwahlen. In Sachsen-Anhalt, um ein Beispiel zu nennen, steht die AfD gerade bei 13,5 Prozent – eine Partei, deren Direktkandidat dort forderte, Flüchtlingshelfer "an die Wand zu stellen". Worauf müssen wir uns 2016 gefasst machen – oder worauf dürfen wir hoffen?
Heike Hänsel: Die Gefahr ist groß, dass knallhart Politik auf Kosten der Flüchtlinge gemacht wird, mit Hetzkampagnen, Falschinformationen und rassistischer Stimmungsmache. Wir müssen dagegen Informationen und die Erklärung von Zusammenhängen setzen. Gleichzeitig müssen wir auch deutlich machen, wofür die AfD steht: Sie ist im Kern eine neoliberale Partei, die den Mindestlohn ablehnt und ein vereinfachtes Steuersystem fordert, das die Reichen im Land begünstigt. Die AfD ist eine Mogelpackung, sie vertritt gerade nicht die Interessen der sozial Schwachen. Deshalb müssen wir die soziale Frage, die Frage der Umverteilung des Reichtums für bessere Lebensbedingungen für alle, auf die Tagesordnung setzen. Menschen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden! Unterstützung erhoffen wir uns dabei von den vielen tausenden Menschen, die nach wie vor Flüchtlinge unterstützen und sich mit langem Atem engagieren.
Jan Korte: Und wir dürfen deshalb hoffen, dass die Wählerinnen und Wähler sich der Wichtigkeit ihrer Stimme bewusst sind und sich gegen diejenigen stellen, die sich abschotten wollen, die keine Verantwortung übernehmen wollen und die sich über andere stellen. Es geht darum, ob wir Demokratie und Menschenrechte als Errungenschaften der Zivilisation schützen und weiter entwickeln wollen oder ob wir sie vor lauter Ängsten und Sorgen jammernd preisgeben. Ich plädiere für ersteres und bin der Überzeugung, dass sich gerade in Sachsen-Anhalt eine klare und deutliche Mehrheit für eine freie und solidarische Gesellschaft aussprechen wird – dafür werden DIE LINKE und unser Ministerpräsidentenkandidat Wulf Gallert alles geben.
linksfraktion.de, 21. Dezember 2015