Öffentliche Anhörung zum Antrag der Linksfraktion, die Opfer von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation als Verfolgte des Nationalsozialismus anzuerkennen
Der Ausschuss für Kultur und Medien hat sich heute im Rahmen einer Öffentlichen Anhörung mit unserem Antrag „Opfer von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkennen – Aufarbeitung vorantreiben“ (Drs. 20/2429) beschäftigt.
Nach Schätzungen der aktuellen Forschung sind bis zu 300.000 Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen vorsätzlich in staatlichen und privaten Heil- und Pfleganstalten sowie auch in Konzentrationslagern von den Nazis grausam ermordet worden. Opfer waren Frauen, Männer, Kinder und Jugendliche – vom Neugeborenen bis zu Senior*innen. Zunächst beschränkten sich die Taten in sechs Mordzentren mit Vergasungsanlagen auf das Gebiet des Deutschen Reiches/Österreich, sie wurden dann aber mit Beginn des Raub- und Vernichtungskrieges auch auf besetzte Gebiete in Polen, der Sowjetunion, Frankreich, Tschechien ausgeweitet. Den Weg dazu ebnete nach dem Machtantritt der Nazis das erste Rassegesetz des NS-Staates (Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses) vom Juli 1933, das ebenfalls Zwangsterilisationen bei nahezu 400.000 Männern und Frauen legalisierte und damit ihr Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit außer Kraft setzte. Bis zu 6.000 Frauen und ungefähr 600 Männer sind zwischen 1933 und 1945 an den Folgen dieser gewaltsamen Eingriffe gestorben, die durch sog. Erbgesundheitsgerichte angeordnet wurden.
Die Anerkennung der NS-Verfolgung von marginalisierten Bevölkerungsschichten wurde erinnerungspolitisch in der Bundesrepublik seit 1949 vielfach durch die gezielte Individualisierung der rassistisch-eugenischen Verfolgungsgründe überlagert, wodurch den Verfolgten bzw. Angehörigen Selbstverschulden bzw. Eigenverantwortung unterstellt und spezifische NS-Gewaltmaßnahmen relativiert wurden. Solche Narrative gegenüber körperlich benachteiligten Menschen wirken auch in der Gegenwart fort, wenn die Lebensumstände marginalisierter Menschen aus dem gesellschaftlichen Kontext herausgelöst werden.
Nachweislich gab es seit 1945 politische Vorbehalte gegen eine pauschale Anerkennung gerade dieser Geschädigten in die Kategorie der NS-Opfer, die vom nahtlosen Übergang zahlreicher Nazitäter und -eliten aus den Bereichen Medizin, Psychiatrie, Rechtswesen, Verwaltung und Fürsorge/Wohlfahrt in der alten Bundesrepublik flankiert wurde. Erst im Jahr 2007 wird das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durch den Deutschen Bundestag (BT-DS 16/3811) geächtet. Doch für wirklich nichtig erklärt, wie von Betroffenen gefordert, wurde dieses menschenverachtende Gesetz bisher nicht.
Das Votum der Sachverständigen zu unserem Antrag war einhellig: Es gibt keinen einzigen Grund, warum man auch nur noch einen Augenblick mit der lange überfälligen Anerkennung der Eugenik-Verfolgten als Opfer des Nationalsozialismus warten sollte.
Um die Aufklärung über die Verbrechen und das Gedenken an die Opfer zu stärken, müssen die Gedenkstätten endlich ausreichend finanziell und personell ausgestattet und ihre Arbeit langfristig gesichert werden. Auch in den 80 psychiatrischen Großkliniken sollten überall Initiativen zur Errichtung von Gedenkorten gefördert werden. Deutlich wurde auch, dass eine drohende Vernichtung der Krankenakten so schnell wie möglich durch ein generelles Kassationsverbot verhindert werden muss. DIE LINKE hat jedenfalls geliefert und einen guten Antrag vorgelegt. Der Ball liegt jetzt klar auf Seiten der Ampel, die ja laut Koalitionsvertrag auch bei dem Thema aktiv werden will. Ich hoffe sie nimmt die heutige Diskussion zum Anlass schnell zu handeln.
Weiterführende Links
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»Experten: NS-Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationen anerkennen«, bundestag.de
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„Opfer von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkennen – Aufarbeitung vorantreiben“ (Antrag der Linksfraktion, Drs. 20/2429), dserver.bundestag.de
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»›Euthanasie‹: Kein Verbrechen am Rande«, nd-aktuell.de am 26.09.2022