Das ganze System auf den Prüfstand stellen
Anfang Juni berichtete der britische Guardian zum ersten Mal über das Überwachungsprogramm PRISM des US-Geheimdienstes NSA. In den Tagen darauf wurde klar, dass die NSA und der britische Geheimdienst GCHQ massenhaft Kommunikationsdaten aus der ganzen Welt sammeln und speichern, dass bundesdeutsche Geheimdienste diese Informationen ergänzt und genutzt haben und die eigenen Überwachungsprogramme ausbauen - und auch Technik der NSA einsetzen.
Auch wenn nahezu jeden Tag neue Informationen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden durch die Welt hinzukamen, wurde die Dimension der Überwachung durch die Geheimdienste recht schnell deutlich: Jede Kommunikation über das Internet und über das Telefon wird potentiell überwacht. Niemand kann davon ausgehen, nicht überwacht zu werden. Seitdem ist klar, dass ein grundgesetzwidriger Zustand herrscht.
Die Bundesregierung hat nichts unternommen, etwas an diesem Zustand zu ändern. Im Gegenteil: Sie hat über Monate hinweg eine Position eingenommen, die im Prinzip den Angriff auf den Rechtsstaat und die Bürgerrechte durch die Überwachung geleugnet hat. Allen voran Innenminister Friedrich verteidigte die Geheimdienste vehement, die schließlich für einen "guten Zweck" arbeiteten. Die Tatenlosigkeit der Bundesregierung ist keiner Naivität geschuldet. Selbst Merkel wird gewusst haben, dass Daten gar nicht auf "deutschem Boden" abgeschöpft werden sondern im "Neuland", also eher außerhalb des Bundesgebiets, zum Beispiel auf dem Meeresgrund.
Der ganze Skandal hat von Anfang an auch eine deutsche Dimension. BND und Verfassungsschutz zählen seit Jahren zu den eifrigsten Überwachungspartnern der NSA - im Namen der Sicherheit vor dem Terrorismus. Und da diese Tarnung vom transatlantischen Partner so leichtfertig verspielt wurde, als er sich offenbar 2002 das Handy der offensichtlich nicht terroraffinen Kanzlerin vornahm - musste sich die Bundesregierung nun ganz offiziell auf die Hinterbeine stellen. Wobei die Empörung darüber, dass die NSA die Kanzlerin einfach mit dem gemeinen Volk in einen Topf wirft, vermutlich nicht einmal gespielt ist.
Wenn es auch aus den falschen Gründen geschieht: Es ist positiv, dass nun wieder diskutiert wird. Bisher ist noch überhaupt nichts aufgeklärt. Unsere Forderungen sind in den letzten vier Monaten die gleichen geblieben: Wir brauchen einen Paradigmenwechsel der deutschen und europäischen Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik. Es gibt kein Friedrichsches "Supergrundrecht auf Sicherheit", welches alle anderen Rechte bricht. Vielmehr muss es unser Ziel sein, die umfassende Geltung von Menschen- und Bürgerrechten auch im Bereich der Telekommunikation herzustellen.
Viele Maßnahmen sind schon jetzt ohne große Überprüfung umsetzbar: Die Bundesregierung könnte - wenn sie es ernst meint mit der Aufklärung - auch schon heute die Kooperationen zwischen deutschen und US-Geheimdiensten offenlegen. Sie könnte sich vor zukünftigen Überraschungen schützen, das Gespräch mit Edward Snowden suchen und ihm den sicheren Aufenthalt in der Bundesrepublik ermöglichen. Sie könnte ein Moratorium und die wirklich unabhängige Evaluation aller seit 2001 verabschiedeten nationalen Sicherheitsgesetze und sonstiger Regelungen zum Zugriff auf Bürgerdaten durchsetzen. Sie könnte sich für klare, völkerrechtlich verbindliche internationale Regelungen einsetzen, die jedem Menschen den grundsätzlichen Schutz ihrer Menschenrechte auf Privatheit garantieren. All dies könnten die aktuelle und die künftige Bundesregierung kurzfristig tun, auch ohne von einem Untersuchungsausschuss dazu gezwungen zu werden. Traditionell befassen sich Untersuchungsausschüsse in der Bundesrepublik mit Geheimdienstskandalen. Nachdem bereits der NSU-Untersuchungsausschuss die Daseinsberechtigung des Verfassungsschutzes aufgrund seiner Verstrickungen mit der Naziterror-Szene völlig zu Recht in Frage gestellt hatte, wäre es vielleicht angemessen, das ganze System der Überwachung auf den demokratischen parlamentarischen Prüfstand zu stellen, statt jedes Mal in Untersuchungsausschüssen hinter den Geheimdiensten aufräumen zu müssen.
Nach Monaten der Untätigkeit stünde es der Kanzlerin deshalb gut zu Gesicht, ihrer kürzlich gemachte Aussage, dass "Ausspähen unter Freunden" gar nicht gehe und dies "für jede Bürgerin und für jeden Bürger" in die Tat umzusetzen. Das muss eine klare Forderung aus dem Bundestag sein, der zum Glück nun doch zusammenkommen darf, bevor Union und SPD ihren Koalitionsvertrag ausgehandelt haben - wollten sie tatsächlich glaubwürdige Konsequenzen aus dem NSA-Überwachungsskandal ziehen, sollten dort den Verzicht auf die Vorratsdatenspeicherung erklären. Ob man sich für den Sicherheitsstaat oder für den Rechtsstaat entscheidet, ist keine Frage der Moral sondern eine substantielle politische Richtungsentscheidung.
Die Stimmen für eine grundlegende Kehrtwende in der Innen- und Sicherheitspolitik werden immer mehr. Die Bürgerinnen und Bürger sowie die inner- und außerparlamentarische Opposition dürfen nicht nachgeben, bis die persönliche und individuelle Entfaltung des Individuums und nicht dessen vollständige Kontrolle Richtschnur der Politik geworden ist.
erschienen auf linksfraktion.de, 29. Oktober 2013