Die Bundesrepublik zum Überwachungsverweigerer machen!
Am 26. November berichtete die BILD unter der Überschrift "Angst vor Snowdens 'Weltuntergangs'-Speicher" über die Sorge der Geheimdienste vor weiteren Enthüllungen des Whistleblowers. Demnach rechnen die Dienste quasi stündlich (und das für die nächsten zwei Jahre!) mit weiteren Veröffentlichungen aus dem auf 58.000 Dokumente geschätzten Fundus des Geheimdienstaussteigers, wobei die "schlimmsten Hammer noch bevorstehen" sollen.
Einer dieser Hammer, die den grenzenlosen Datenhunger der Geheimdienste deutlich machen, wurde am 4. Dezember von der Washington Post veröffentlicht: Demnach sammelt und analysiert die NSA weltweit täglich fünf Milliarden Standortdaten von hunderten Millionen Mobiltelefonen in einer riesigen Datenbank namens FASCI. Um diese Datenberge zu erhalten, zapft die NSA gezielt die Kabel an, die die Rechenzentren großer Mobilfunkanbieter miteinander verbinden.
Potential, die Demokratie in ihren Grundfesten zu zerstören
Mit ihrem Programm Co-Traveler ist die NSA offenbar in der Lage, die Bewegung und den Aufenthalt einzelner Menschen genau zu verfolgen und ausführliche räumlich-zeitliche Profile von Einzelnen und Gruppen erstellen. Der Überwachungsapparat, den die NSA mit Unterstützung europäischer Geheimdienste aufgebaut hat, kann so zur totalen Überwachung und sozialen Kontrolle der Bevölkerung eingesetzt werden. Die Massendatenüberwachung ist jedoch nicht nur deshalb problematisch, weil damit außerhalb jeder Rechtsgrundlage alle Menschen anlasslos ausgeforscht werden, sondern auch weil damit technisch die Möglichkeit besteht, nicht nur verdächtige Terroristen oder Kriminelle, sondern beispielsweise auch jeden kleinsten Schritt Oppositioneller zu verfolgen. Demokratie basiert auf dem Fundament der freien Assoziation, der freien Rede und dem Widerspruch. Die allumfassenden Überwachungsprogramme haben daher das Potential, die Demokratie in ihren Grundfesten zu zerstören.
Wie groß die Angst der Regierungen und ihrer Überwachungsapparate vor weiteren Enthüllungen über ihre Machenschaften ist, konnte man kürzlich auch in Großbritannien beobachten, wo ganz konkret die Pressefreiheit auf dem Spiel zu stehen scheint: Nach monatelangen Angriffen auf den Guardian, bei denen der Zeitung die Gefährdung der nationalen Sicherheit Großbritanniens oder der USA sowie Vaterlandsverrat vorgeworfen wurde, musste sich Guardian-Chefredakteur Rusbridger in einer Anhörung im britischen Unterhaus absurde Fragen zum NSA-Skandal gefallen lassen. Er blieb souverän und versicherte: Seine Zeitung werde sich nicht einschüchtern lassen und weiter veröffentlichen.
Der Skandal im Skandal
Der Watergate-Enthüller Carl Bernstein hat recht: Statt Journalisten zur Vernehmung einzubestellen und einzuschüchtern, sollten die Abgeordneten lieber über den modernen Überwachungsstaat debattieren und vor allem die Regierungen endlich für Aufklärung und ein Ende der Ausspähung sorgen. Auch hierzulande ist ja der eigentliche Skandal im Skandal, dass die Bundesregierung und die beiden stärksten Bundestagsfraktionen seit sechs Monaten vor allem drei Dinge tun: ignorieren, vertuschen und bei der Überwachung mitmachen. Der NSA-Datenexzess ist die logische Folge einer Politik, welche die Sicherheit über alles stellt – über die Bürgerrechte, über die Meinungsfreiheit, über die Demokratie und über die Verfassung. Diese Politik führt in den präventiven Sicherheitsstaat, der nur noch das "Supergrundrecht auf Sicherheit" kennt.
Wer aber Freiheit und Demokratie oder auch einfach "nur" das Recht auf Privatsphäre verteidigen und nicht in eine Höhle ziehen will, der muss jetzt aufstehen. Wir müssen aus dem Automatismus des Überwachungsausbaus aussteigen. Es ist höchste Zeit für eine Umkehr und die Entwicklung einer bürgerrechtlichen und friedlichen Vision: Analog zur Ächtung von Massenvernichtungswaffen müssen künftig auch Entwicklung, Verkauf und Einsatz von Massenüberwachungstechniken verboten werden. Wie wäre es, wenn Deutschland einmal beispielhaft vorangehen und der erste Überwachungsverweigerer werden würde?
Erschienen auf linksfraktion.de, 6. Dezember 2013