Europa retten, indem wir es ändern
Erschienen auf neues-deutschland.de am 31.3.2017
Ich gehöre zu einer Generation, die wie selbstverständlich mit und in Europa groß geworden ist. Mit 18 hatte ich das große Glück und Privileg, das Großartige an Europa zu erleben: Im Sommer ging es mit Freunden und Rucksäcken wochenlang kreuz und quer durch Europa: Am Bahnhof, im Zug oder am Strand wurde geschlafen, billigster Wein getrunken und – das ist das Beste gewesen – man lernte Unmengen anderer Menschen kennen. Man erfuhr etwas über die Sorgen, Nöte und politischen Kämpfe, aber eben auch über die Freuden, in diesem oder jenem Land Europas zu leben. Als junger Mensch habe ich daher in erster Linie positive Assoziationen zu Europa: Grenzenlos, friedlich und irgendwie klappte auch im Ausland die Krankenbehandlung, wenn es sein musste. Das sind Erfahrungen, die ganz viele Menschen mit Europa gemacht haben. Und das ist auch der Grund, warum zur Zeit erfreulich viele junge Menschen für dieses Europa auf die Straße gehen. Und zwar aus zwei Gründen: Weil sie real gute Erfahrungen mit Europa verbinden und zum zweiten weil die europäische Einigung von rechts angegriffen wird.
Dass dort eher die Privilegierten demonstrieren, die über ein hohes Bildungskapital verfügen, mag sein, macht das Grundanliegen aber deswegen noch lange nicht zum falschen. Große Teile meiner und der nachwachsenden Generationen verbinden mit Europa Freizügigkeit, Internationalität und eine Absage an den elenden Nationalismus. Und daher verwundert es doch nicht, dass Europa besonders von den Rechten bedroht wird: Den Brexit-Betreibern, Orban, der PIS in Polen, Le Pen, der AfD, der CSU und den ganzen anderen Egoisten geht es eben um das Gegenteil: Keine Freizügigkeit, Mauern und Nationalismus. Ich verabscheue das zutiefst.
Richtig ist aber auch, dass meine Interrailfreunde im Süden heute von einen gigantischen Arbeitslosigkeit betroffen sind, das die EU sich abschottet und eine Mauer um sich errichtet hat, an der tausende elendig umkommen. Die EU hat sich den Konzernen und Interessen des großen Geldes unterworfen. Gemeinsame politische Projekte beschränken sich heute nur noch auf Abschottung nach Außen und Überwachung nach Innen. Aber: Das ist doch gerade auf Druck von Deutschland geschehen. Alle berechtigte Kritik am Einfluss der Finanzwirtschaft oder das Schimpfen auf die Brüsseler Bürokratie dürfen nicht davon ablenken, dass die größten Europazerstörer Merkel und Schäuble sind, mit ihrer Aufrüstung, mit ihren sozialen Verwüstungen in Griechenland und ihrem Kommandoton. Im eigenen Land liegen die Gründe für die größte Krise, in die Europa seit Bestehen gebracht wurde.
Unsere Aufgabe ist es, Europa zu einem positiven Projekt aller zu machen: Es muss besser, sozialer, menschlicher und demokratischer werden. Und ja, dabei ist die soziale Frage entscheidend: Warum haben denn so viele Arbeiter für den Brexit gestimmt? Das hat Ursachen! Deren Gründe liegen nur mehr bei den von Thatcher und Blair verursachten sozialen Verwerfungen, der Arbeiterentrechtung und der Privatisierung von allem, was nicht bei drei auf dem Baum war, und weniger bei der EU. Genauso wie in Deutschland nicht die EU die Agenda 2010 durchgesetzt hat, sondern SPD und Grüne mit Flankierung der Konservativen. Aber es war der Wille der Regierungen, allen voran der Bundesregierungen Schröder und Merkel, das neoliberale Grundprinzip in Europa ebenfalls durchzusetzen: Das Recht des Stärkeren, die Entsolidarisierung, die falsche Prioritätensetzung zwischen Mensch und Wirtschaft, eine im Alltag lästige Demokratie, die nur in Sonntagsreden hochgelebt wird.
Was wir eigentlich mit Europa haben könnten, finden wir in Artikel 2 des EU-Vertrags, an den man nicht häufig genug erinnern kann: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Im Moment ist es schon ein Kampf, die positiven Errungenschaften der EU, bei all ihren Schwächen, gegen Rechts zu verteidigen, obwohl wir als Linke natürlich weit darüber hinauswollen. Aber so ist nun mal gerade die Kampflinie in Europa. By the way: Wer in der Debatte über Neustarts und Neugründungen redet – was das auch immer konkret bedeuten mag – muss sich die Frage gefallen lassen, wie erfolgreich und progressiv man so ein Projekt mit den Regierungen in Polen und Ungarn, um nur zwei Beispiele zu nennen, bewerkstelligen kann. Bei der derzeitigen Verfassung der EU mit nationalistischen, europafeindlichen Regierungen könnte man sich auch schon über erste kleinere Schritte freuen, wie z. B. wenn Schäuble nicht mehr Bundesfinanzminister wäre.
Die Idee eines sozialen, friedlichen und solidarischen Europas ohne Stacheldraht ist eine im Kern linke Idee. Wer sich dafür einsetzt und auf die Straße geht, wie privilegiert oder benachteiligt er oder sie auch sein mag, hat offenbar eine Peilung dafür, was gerade passiert. Die Gegenseite ist die politische Rechte, die mehrfach bewiesen hat, dass sie dieses Europa nicht will: Mit einer Unbarmherzigkeit gegenüber Griechenland, ihrer Idee eines Europas der zwei Geschwindigkeiten, die den Spaltpilz weiter wuchern lässt. Wir brauchen keine Fortsetzung der Austeritätspolitik, bis im Süden Europas die Jugendarbeitslosigkeit bei 100% liegt. Und wir brauchen kein Europa, das das Interesse des Kapitals über die eigenen Gründungswerte stellt.
Europa kann nicht gewinnen, wenn es seine eigene Idee weiterhin verrät, sondern nur, wenn es sich auf das besinnt, was es sich vor einem Vierteljahrhundert einmal vorgenommen hat. Das wäre zum Vorteil sowohl derer, die innerhalb seiner Grenzen leben und arbeiten, als auch derer, die faire Wirtschaftsbeziehungen erwarten oder Schutz vor Verfolgung suchen. Wir sollten dafür kämpfen, dass alle Menschen positive Erfahrungen mit Europa und seinen Bewohner*innen verbinden, nicht nur kulturell und touristisch, wie ich sie mit 18 machen durfte, sondern vor allem im Alltag.
Jan Korte, Jg. 1977, ist stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE und Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftun