Die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage muss abgeschafft werden
In seiner Rede erläutert Jan Korte warum DIE LINKE mit ihrem Gesetzentwurf zur Änderung der Strafprozessordnung die Abschaffung der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage (Drucksache 17/7335) erreichen will. Die Funkzellenabfrage (FZA) geriet im Zusammenhang mit der antifaschistischen Demonstration gegen den alljährlichen Naziaufmarsch in Dresden Mitte Februar 2011, als über eine Million Mobilfunkdaten vor und während der Demo rechtswidrig durch die sächsische Polizei erfasst und verarbeitet wurde, ins Blickfeld der Öffentlichkeit.
Der Dresdner Datenskandal verdeutlicht eindringlich, dass es bei der FZA im Hinblick auf die Streubreite und die damit verbundenen schweren Eingriffe in die Grundrechte Unbeteiligter, nicht ausreicht, legislativ Sicherungen einzubauen, die ihre Benutzung erträglich machen sollen. Erforderlich ist vielmehr die ersatzlose Streichung dieser unverhältnismäßigen Maßnahme aus dem Katalog möglicher Verfolgungsinstrumente des § 100 StPO.
Rede zu Protokoll
Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen,
wir behandeln hier heute zwei Gesetzentwürfe, die in der Problemanalyse weitgehend übereinstimmen, sich in der Konsequenz allerdings doch deutlich unterscheiden. Wo ist der Unterschied? Während die Kolleginnen und Kollegen der Grünen aus dem Dresdner »Handygate«, auf das wir später noch genauer zu sprechen kommen müssen, den Schluss ziehen, die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage (FZA) müsse zwar durch allerlei legislative Sicherungen eingeschränkt, aber als Ermittlungsmaßnahme prinzipiell erhalten bleiben, kommt meine Fraktion zu dem Schluss, dass die Maßnahme grundsätzlich unverhältnismäßig ist. Dementsprechend sieht unser Gesetzentwurf konsequenterweise die Aufhebung der Ermächtigungsgrundlage der nichtindividualisierten FZA in der Strafprozessordnung vor.
Die Grünen verharren leider bei ihrer Kritik im Kern in ihrer Position aus der Zeiten von rot-grün. Denn eines sollte man an dieser Stelle ja einmal erwähnen: Erst unter der Regierungskoalition von SPD und Grünen wurde die nichtindividualisierte FZA im Jahr 2001 eingeführt. Die Bundestagsfraktion der PDS hatte damals bereits völlig zu Recht auf die mögliche Ausuferung und die rechtsstaatlichen Prinzipien nicht gerecht werdende Anwendung hingewiesen und entsprechend gegen sie gestimmt.
Was ist aber nun der Anlass für diese Gesetzesinitiativen?
Alljährlich versuchen Mitte Februar Tausende Neonazis aus ganz Europa durch Dresden zu marschieren, so auch am 19. Februar 2011. Der Aufmarsch hat sich in den letzten Jahren zum wichtigsten neonazistischen Event entwickelt. Von militanten sogenannten »Autonomen Nationalisten«, über das parteiförmige Spektrum, angeführt von der NPD, über Vertriebenenverbände und Burschenschafter bis hin zu Vertretern der sogenannten »Neuen Rechten« ist die gesamte Bandbreite von Ewiggestrigen vertreten. Diesem braunen Treiben stellen sich seit vielen Jahren mehrere zehntausend Gegendemonstranten entgegen, die mit friedlichen Massenblockaden den Aufmarsch verhindern wollen. Soweit so gut, sollte man annehmen. Doch die Gegendemonstrationen und Sitzblockaden, die sich gegen die jahrelange Instrumentalisierung der Bombardierung Dresdens durch die Nazis richteten, wurden von der sächsischen Landesregierung und der Polizei nicht wie man meinen könnte mit Sympathie und politischer Unterstützung aufgenommen, sondern von vornherein kriminalisiert und mit Verbotsauflagen belegt. Mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken wurde massiv gegen Demonstrierende vorgegangen. Am 19. Februar selbst, wie auch in den Monaten danach, fanden mehrfach Hausdurchsuchungen statt, von denen auch Bürger und Bürgerinnen in anderen Bundesländern betroffen waren. Dabei wurde seitens der Dresdner Staatsanwaltschaft völlig rechtswidrig vorgegangen und neben Büros der Partei DIE LINKE auch eine Anwaltskanzlei durchsucht, obwohl weder für das eine noch das andere entsprechende Durchsuchungsbeschlüsse vorlagen. Im Vorfeld der Demonstrationen waren außerdem bereits Verfahren nach §129 StGB eingeleitet worden. Wegen der Teilnahme an den Protesten gegen den Naziaufmarsch wurde mittlerweile die Immunität der Vorsitzenden der Linksfraktionen in den Landtagen von Thüringen und Sachsen, Bodo Ramelow und André Hahn, aufgehoben. Ähnliche Pläne gibt es gegen unsere Fraktionsvorsitzenden in Hessen, Janine Wissler und Willi van Ooyen. Und das muss man sich mal vorstellen: Da heben dann, auf der Basis von völlig unhaltbaren Vorwürfen, die Abgeordneten der schwarz-gelben Regierungskoalition einträchtig mit der rechtsextremen NPD die Immunität des Vorsitzenden der größten Oppositionsfraktion im Landtag auf. Solange sie sich nicht eindeutig gegen dieses skandalöse Gebaren ihrer Parteifreunde erklären, solange können sie sich hier ihre schönen Sonntagsreden und Forderungen nach einem gemeinsamen entschlossenen Engagement gegen Neonazis sparen.
Das alles ist einfach unfassbar und Ausdruck der speziellen Form der »sächsischen Demokratie«, wie sie der Kollege Thierse neulich treffend charakterisierte. Und damit auch die Kollegen der Union es endlich mal begreifen, kläre ich Sie hier jetzt einmal über einen beliebten Irrtum Ihrerseits auf: Blockaden sind keine Straftat. Das hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1995 in seinem Beschluss zu den Mutlangen-Blockaden festgestellt. Sie stellen keine verwerfliche Nötigung und keine Gewalt nach § 240 Strafgesetzbuch dar. Ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages belegt, dass es für eine Strafverfolgung in den Jahre 2010 und 2011 ohnehin keinerlei Rechtgrundlage gibt.
Die Proteste und Blockaden im letzten und in diesem Jahr haben aber trotz dieser unglaublichen Kriminalisierung von antifaschistischem Engagement auch Folgendes gezeigt: Es ist möglich den Nazis die Schranken aufzuzeigen, es ist möglich wenn sich die Menschen solidarisch und mutig zusammenstellen. Und es wird auch möglich sein den Naziaufmarsch langfristig ganz zu verhindern - nämlich genau dann, wenn in Dresden endlich eine aufgeklärte Erinnerungskultur entsteht und wenn auch in Sachsen wieder rechtsstaatliche Verhältnisse einkehren. Damit wir alle darauf nicht noch lange warten müssen, hoffe ich, dass auch im kommenden Jahr noch mehr Menschen nach Dresden kommen werden, um sich den Nazis entgegen zu stellen!
Denn von normalen rechtsstaatlichen Verhältnissen sind wir im CDU-FDP-regierten Sachsen leider ein gutes Stück entfernt, dass zeigt u.a. das Dresdner Handygate.
Ans Licht der Öffentlichkeit geriet das Ganze zufällig als ein Betroffener, der Mitarbeiter einer Abgeordneten meiner Fraktion ist, in seinen Ermittlungsakten nachlesen konnte, mit wem - und das mit Namen der Gesprächspartnerinnen und -partner - er wann und wo telefoniert habe. Die ganze Dimension der Affäre kam dann aber nur äußerst zögerlich und nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit. Erst durch die hartnäckige Recherche von verschiedenen Seiten und durch zahlreiche Medienberichte wurde bekannt, dass die Polizei bei und im Vorfeld der Demonstrationen am 19. Februar 2011 in Dresden nichtindividualisierte Funkzellenabfragen (FZA) in bislang nicht gekannten Umfang durchgeführt hat.
Nachdem am 19. Juni 2011 die »taz« erstmals berichtete, dass die Dresdner Polizei bei den Antinaziprotesten die Handyverbindungen von tausenden Demonstranten, Anwohnern, Journalisten, Anwälten und Politikern ausgespäht habe und dies auch durch die Staatsanwaltschaft Dresden bestätigt wurde, war das tatsächliche Ausmaß der Überwachungsmaßnahme noch weitgehend unklar. Zuerst kam raus, dass die Polizei am 19. Februar 2011 über insgesamt neun Stunden an 14 verschiedenen Örtlichkeiten FZA durchgeführt hat. Dabei erfasste und speicherte die Sonderkommission 19/2 der Polizeidirektion Dresden fast 140.000 Verkehrsdaten, also die Seriennummern der Mobiltelefone und die dazugehörigen Telefonnummern, die Standortdaten, die Telefonnummern eingehender und abgehender Anrufe und Kurznachrichten sowie Datum und Uhrzeit der Kommunikation. Doch das war noch längst nicht alles. Einige Zeit später mussten die Verantwortlichen zugegeben, dass auch am 13., 18. und 19. Februar 2011 im Rahmen von »Strukturermittlungen« gegen eine mutmaßliche kriminelle Vereinigung weitere nichtindividualisierte Funkzellenabfragen durchgeführt worden waren. Dabei wurde der Mobilfunk in weiten Stadtgebieten Dresdens zum Teil bis zu 48 Stunden überwacht. Das LKA Sachsen erhob dabei insgesamt rund 900.000 weitere Datensätze, die ebenfalls an die SoKo 19/2 übermittelt wurden. Die Mehrzahl dieser Funkzellenabfragen wurden inzwischen durch den sächsischen Datenschutzbeauftragten als rechtswidrig eingestuft und gegenüber der Landesregierung beanstandet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
der § 100g Absatz 2 Satz 2 Strafprozessordnung (StPO) stellt ein Mittel der Strafverfolgung zur heimlichen nachträglichen Erhebung von Telekommunikationsspuren in einem räumlich und zeitlich eingegrenzten Gebiet dar. Die Maßnahme, die sich eigentlich nur gegen Beschuldigte und Nachrichtenmittler richten darf, das hat das Dresdner Handygate mehr als deutlich gezeigt, trifft aber de facto alle Personen, die sich in dem betroffenen Gebiet mit einem Mobiltelefon aufhalten oder darüber kommunizieren sowie diejenigen, die aus diesem Bereich kontaktiert werden oder selber in das betroffene Gebiet Kontakt aufnehmen. Dies hat die Bundesregierung ja auch in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen einräumen müssen. Eine Erfassung von unberechenbar vielen Personen, die in keinerlei Zusammenhang mit den polizeilichen Ermittlungen stehen - insbesondere in großen Ballungszentren - ist also unvermeidlich. Der damit einhergehende massive Grundrechtseingriff ist für DIE LINKE nicht hinnehmbar. Durch die FZA wird direkt und gezielt in das Fernmeldegeheimnis, das die Vertraulichkeit der Kommunikation schützt, eingegriffen. Die technischen Möglichkeiten der automatisierten Verarbeitung und Verknüpfung der gewonnenen Daten können dazu benutzt werden Freundschaftsbeziehungen und Netzwerke, Interessen und politische Einstellungen zu identifizieren und Bewegungsprofile zu erstellen. Dieser massive Eingriff ist in Bezug auf die unberechenbar hohe Vielzahl an von der FZA betroffenen Unbeteiligten in keinster Weise verhältnismäßig.
Bei der FZA in Bezug auf Demonstrationen, wie in Dresden, kommt ein massiver Eingriff in die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit hinzu. Das »Volkszählungsurteil« des Bundesverfassungsgerichts von 1983 hat dazu sehr richtig festgestellt, dass bei Demonstrationen staatliche Datenerhebungsmaßnahmen wegen des damit verbundenen Einschüchterungseffekts im Hinblick auf die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für eine Demokratie grundsätzlich gemeinwohlschädlich wirken. Ich zitiere ihnen an dieser Stelle mal eine wichtige Passage aus dem damaligen Urteil: »Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art.8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist« (Volkszählungsurteil des BVerfG vom 15. Dezember 1983, 1 BvR 209/83 u.a., Rn. 146). In Dresden war es außerdem so, dass sich unter den Demonstranten etliche besonders geschützte Personen, nämlich viele Journalisten und Abgeordnete in der Funkzelle befanden oder mit ihnen aus der Funkzelle heraus kommuniziert wurde. Deren Rechte wurden gleichfalls massiv beschnitten.
Der Dresdner Datenskandal verdeutlicht also eindringlich, dass es bei der FZA im Hinblick auf die Streubreite und die damit verbundenen schweren Eingriffe in die Grundrechte Unbeteiligter, nicht ausreicht, legislativ Sicherungen einzubauen, die ihre Benutzung erträglich machen sollen. Der Gewährleistung der Grundrechte ist durch Reparaturarbeiten am § 100g Abs. 2 Satz 2 nicht beizukommen. Erforderlich ist vielmehr die ersatzlose Streichung dieser unverhältnismäßigen Maßnahme aus dem Katalog möglicher Verfolgungsinstrumente.
Und um es klar zu sagen: Wir werden es nicht akzeptieren, dass erneut friedlicher Widerstand durch sächsische Behörden mit rechtswidrigen Methoden kriminalisiert wird. Zivilcourage ist unser aller Pflicht. Die Kriminalisierung der Anständigen schränkt unser aller demokratisches Grundrecht auf friedlichen Protest ein. Wir brauchen den Mut von Bürgerinnen und Bürgern, sich den Rechten entgegenzustellen und wir brauchen die freie Kommunikation. Es kann nicht sein, dass jetzt diejenigen kriminalisiert werden, die den geforderten Mut aufbringen und aktiv mit allen Anderen verhindert haben, dass der größte Naziaufmarsch in Europa durch Dresden marschiert.
Wir werden auch im Jahr 2012 gemeinsam mit vielen anderen Demokratinnen und Demokraten in Dresden gegen die Nazi-Demo auf die Straße gehen und sind stolz darauf, in unseren Reihen solche Menschen wie Bodo Ramelow und André Hahn zu haben.
Vielen Dank.