Kaum vorstellbar
Es vergeht kaum ein Tag in der Bundesrepublik, an dem nicht irgendein konservativer Politiker, Sozialdemokrat, Polizeigewerkschaftler oder Bürokrat die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung fordert. Heute war es wieder BKA-Chef Ziercke, der aber sogleich zu beruhigen wußte: Die anlasslose Überwachung aller Bürgerinnen und Bürgern sei kein Schritt in Richtung Überwachungsstaat.
Zum Umgang mit dem Terrorismus und der Sicherheitsdebatte in Europa hat Jan Korte vor kurzem einen Artikel auf www.linksfraktion veröffentlicht, den wir hier aus heutigem Anlass dokumentieren:
Kaum vorstellbar
von Jan Korte, Leiter des Arbeitskreises BürgerInnenrechte und Demokratie und Datenschutzbeauftragter der Fraktion
Bei der öffentlichen Bewältigung des Schocks nach den Massakern in Oslo und auf der Insel Utoya hat die norwegische Regierung demokratisches Selbstbewusstsein gezeigt. Das sollte beispielhaft wirken - und ist doch hierzulande kaum vorstellbar, wenn es um den Umgang mit terroristischen Bedrohungen geht.
Den Kampf gegen den Terrorismus haben wir mit umfangreichem Freiheitsverlust bezahlt. Ein Zwang, den die Autorinnen eines »Graubuch Innere Sicherheit« ausdrücklich in Anführungszeichen setzen: »Allein die Fülle der gesetzlichen Einschränkungen [...] und deren thematische Streubreite - von der Erfassung biometrischer Daten über die Kontrolle von Reisebewegungen und Finanztransfers bis zur Überwachung der Kommunikation - vermitteln einen ersten Eindruck über den Umfang des Freiheitsverlustes, den wir angeblich als Preis der Terrorismusbekämpfung zahlen müssen.« (Rosemarie Will/Werner Koep-Kerstin, Graubuch Innere Sicherheit. Berlin 2009)
Seit die Autorinnen und Autoren des »Graubuch Innere Sicherheit« im Jahr 2009 diese deprimierende und demokratiegefährdende Bilanz der deutschen - und europäischen - Anti-Terrorpolitik gezogen haben, sind einige weitere Gesetze und Maßnahmen dazugekommen. Jede reale oder eingebildete Bedrohung - so genau kann das niemand beurteilen - wird regelmäßig begleitet von öffentlichen Kampagnen über Sicherheitslücken, anhaltender Terrorgefahr und neuen unbekannten Bedrohungen.
Wäre es nach dem Willen der Betonfraktion in der Union gegangen, wäre noch der Massenmord des rechtsradikalen Breivik in Norwegen, der 78 Menschen das Leben kostete, dazu instrumentalisiert worden, die auf Halde liegende Vorratsdatenspeicherung endlich durchzusetzen. Die gibt es in Norwegen allerdings schon, der Name Breivik war unbeachteter »Datenmüll«. Der Unsinn war offensichtlich, das Kalkül zu kaltschnäuzig und so verstummten diese Forderungen erstmal wieder.
In Norwegen wurde auch der Glaube, mit Gesetzesverschärfungen auf Terrordrohungen reagieren zu müssen, beeindruckend widerlegt. Unvorstellbar sind für Deutschland Reaktionen, wie sie die norwegische Regierung - das ganze Ausmass des Dramas war gerade erkennbar - beharrlich wiederholte: mit mehr Offenheit werde die norwegische Gesellschaft auf diesen Angriff eines rechtsradikalen Mörders, der Linke und Muslime hasst, reagieren. Die Terroristen werden »unsere Demokratie und unser Engagement für eine bessere Welt nicht zerstören«, »unsere Antwort lautet mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit«, das waren die zentralen Botschaften des Premierministers bis heute. Dagegen lauten die Botschaften der deutschen Politik regelmäßig, mehr Grundrechtsbeschränkungen, mehr staatliche Befugnisse, mehr Kontrolle und weniger Demokratie.
Die einen fördern demokratisches Selbstbewusstsein, die andern Angst, die einen erhalten möglicherweise die Chancen für ein friedliches Zusammenleben in schwierigen Verhältnissen, die anderen säen Misstrauen.
Der Kampf gegen Terrorismus kann und darf nicht auf Kosten von Grund- und Bürgerrechten geführt werden. Überwachungsstaat und Demokratisierung bleiben für DIE LINKE unvereinbare Gegensätze. Bei allem Schrecken über die Tat hat die norwegische Regierung gezeigt, dass die Politik auch unter schwersten Bedingungen sich daran orientieren kann.