Jan Korte, MdB (DIE LINKE) (www.jan-korte.de)

Grundlegende Wahlrechtsreform ist ein Schritt zur Demokratiebeschleunigung

26.05.2011
Jan Korte, DIE LINKE: Grundlegende Wahlrechtsreform ist ein Schritt zur Demokratiebeschleunigung

In seiner Rede zum Gesetzentwurf der LINKEN zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts hat Jan Korte verdeutlicht, dass ein neues Wahlrecht ein Bestandteil einer Demokratisierungsstrategie sein müsse, die das Einmischen von Bürgerinnen und Bürgern fördert und Elemente direkter Demokratie enthält. DIE LINKE hat im Bundestag ein Wahlgesetz vorgelegt, das nicht nur den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht, sondern darüber hinaus gehend auch die Beteiligung nichtdeutscher Staatsbürger und junger Menschen ab 16 Jahren vorsieht.

Jan Korte [DIE LINKE]:

Liebe Kollege Krings, wenn die Opposition nichts vorgelegt hätte, dann hätten wir heute gar nichts zu diskutieren. Das ist die Wahrheit.
Sie müssen die Vorschläge, die gemacht wurden, nicht teilen. Sie als demokratiefeindlich zu bezeichnen, geht voll an der Sache vorbei, vor allem, wenn man selber nichts vorlegt. Das war völlig unangemessen. Sie könnten versuchen, ein bisschen herunterzukommen und die Vorschläge sachlich zu diskutieren.
[Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD]

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auf einige Punkte eingehen. Die Linke geht in der Tat über die Frage des negativen Stimmgewichts hinaus. Das mag Ihnen nicht gefallen, aber es sind die Vorschläge, die aus den Reihen der Opposition kommen. Ich möchte vorstellen, was wir vorschlagen, um zu versuchen, die Demokratie insgesamt attraktiver zu machen und mehr Menschen an Partizipationsprozessen zu beteiligen.

Zunächst haben wir einen Vorschlag zum negativen Stimmgewicht gemacht. Was bedeutet das negative Stimmgewicht? Ich möchte es für die Bürgerinnen und Bürger übersetzen: Es bedeutet, dass ein Mehr an Stimmen bei einer Wahl gegebenenfalls zu einem Weniger an Sitzen führen kann. Das ist paradox; das kann jeder verstehen. Da ist Abhilfe vonnöten. Das hat uns auch das Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben.

Unser Gesetzentwurf greift dementsprechend einige Vorschläge der SPD und der Grünen auf und versucht, daraus eine Quintessenz zu ziehen, die übrigens auch, liebe Kollegen von der Union, die Belange von Bayern und der CSU ein Stück weit mit berücksichtigt.
[Beifall bei der LINKEN - Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): So sind wir!]
Denn wir sind in der Tat der Meinung, dass es beim Wahlrecht keine Benachteiligung der CSU geben darf. Dieses Problem müssen wir anders beheben, aber nicht im Wahlrecht. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
[Beifall bei der LINKEN]

Ferner will die Linke eine Verrechnung von Direkt- und Listenmandaten zunächst auf der Bundesebene, die dann entsprechend auf die Landesebene heruntergebrochen wird. In der Tat sind wir auch der Meinung: Sollten dann noch Überhangmandate entstehen, soll ein Ausgleich erfolgen. So viel zum Thema »negatives Stimmgewicht«.

Die Linke hat darüber hinaus die heutige Debatte, zu der Sie nichts beigetragen haben, über das wir uns jetzt auseinandersetzen könnten, zum Anlass genommen, zu versuchen, beim Wahlrecht insgesamt andere Punkte mit zu berücksichtigen. Dass das erforderlich ist, zeigen die Zustimmungswerte zu unserer parlamentarischen Demokratie und die niedrige Wahlbeteiligung. Demnach ist es höchste Zeit, umfassende Änderungen vorzunehmen.

Ich will einige Änderungsvorschläge vorstellen. In Deutschland entscheidet ein Bundeswahlausschuss über die Zulassung von Parteien zur Bundestagswahl. So weit, so gut. Interessant ist dabei - an dieser Stelle sehen wir Handlungsbedarf - dass im Bundeswahlausschuss die im Bundestag vertretenen Parteien sitzen, die dann darüber entscheiden, ob Konkurrenz zugelassen wird oder nicht.
Sie erinnern sich vielleicht noch an die Debatte über »Die Partei«, deren Nichtzulassung seinerzeit die Medienberichte gefüllt hat. Sie wurde übrigens unter anderem wegen mangelnder Ernsthaftigkeit nicht zugelassen. Das ist ein sehr dehnbares Kriterium. Mir fallen noch andere Parteien ein, für die das gilt. Das Hauptproblem bei dem Verfahren ist, dass es keine Möglichkeit gibt, dagegen zu klagen. Deshalb schlagen wir vor, dass bei einer Nichtzulassung durch den Bundeswahlausschuss die betroffene Partei binnen drei Tagen beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde einlegen kann und dass das Bundesverfassungsgericht noch vor der Wahl in einem zeitlich angemessenen Abstand hierüber eine Entscheidung fällt. Das ist ein konkreter Vorschlag. Diesen Punkt hat im Übrigen auch die OSZE kritisiert.

Wir wollen - der Kollege Krings hat es angesprochen - noch weitergehen. Wir wollen das aktive Wahlrecht auf 16-Jährige ausweiten. Junge Leute engagieren sich auch mit 16 in der Gesellschaft, mischen sich ein und übernehmen Verantwortung. Deswegen wollen wir das Wahlalter senken, analog zu den Kommunen, in denen überwiegend 16-Jährige wählen dürfen. Auch bei der Wahl in Bremen durften 16-Jährige wählen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wir müssen begründen, warum 16-Jährige nicht wählen dürfen. Wir sind dafür, dass auch 16-Jährige aktiv an der politischen Gestaltung und an Bundestagswahlen teilnehmen. Je mehr, desto besser.
[Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN]

Wir fordern des Weiteren, darauf wurde bereits hingewiesen, dass alle Menschen, die seit fünf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland legal leben, das Wahlrecht bekommen. Das ist dringend notwendig, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Tausende Menschen nicht deutscher Staatsangehörigkeit, die zum Teil seit Jahrzehnten hier leben, Steuern zahlen, wirtschaften und sich in die Gesellschaft einbringen und sich einmischen, von der Wahrnehmung eines wesentlichen Grundrechts ausgeschlossen sind. Wir schlagen vor, dass alle, die hier leben, mitentscheiden, wie es in diesem Land weitergeht. Es ist entscheidend, dass wir das endlich hinbekommen.
[Beifall bei der LINKEN]

Wir schlagen überdies vor, die 5-Prozent-Hürde, das ist ein altes Thema, abzuschaffen. Denn es ist klar: Jede Stimme muss gleich viel wert sein. Selbst wenn eine Partei fast 1 Millionen Stimmen bekommt, verfallen nach geltendem Recht de facto alle Stimmen. Deswegen sind wir dafür, die 5-Prozent-Hürde abzuschaffen.
[Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das freut vor allem die FDP!]
- Stimmt, damit würden wir der FDP zurzeit entgegenkommen. Die FDP müsste uns zumindest in diesem Punkt unterstützen. Das ist sehr wahr, Kollege Wieland.
Gegen die Abschaffung der 5-Prozent-Hürde wird immer argumentiert, dann würden die Rechtsextremen in die Parlamente einziehen. Diese Argumentation ist aber nicht schlüssig. Was wäre, wenn sie einmal 6 Prozent bekämen? Wollen wir dann eine 8-Prozent-Hürde einführen? Das geht natürlich nicht. Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und der Kampf gegen Rassismus sind Tagesaufgabe. Das muss zivilgesellschaftlich und darf nicht über das Wahlrecht geregelt werden. Die 5-Prozent-Hürde ist ein Anachronismus. Deswegen schlagen wir vor, sie zu streichen.
[Beifall bei der LINKEN]

Zum Ausschluss von Wahlcomputern. Darüber wurde insbesondere in der Netzcommunity diskutiert. Wir schlagen vor, Computer bei Wahlen zu verbieten. Der Grundsatz der Öffentlichkeit und der Nachvollziehbarkeit von Wahlen muss erhalten werden. Das ist bei Computern logischerweise nicht der Fall. Man kann in sie nicht hineinschauen; man kann nicht wie bei dem herkömmlichen Verfahren Zettel für Zettel nachprüfen, wie die Stimmen abgegeben wurden. Deswegen schlagen wir ein grundsätzliches Verbot von Wahlcomputern vor.
[Beifall bei der LINKEN]

Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist nur eine Frage, mit der wir uns, wenn wir über Demokratie diskutieren, auseinandersetzen müssen. Das Wahlrecht umfassend zu reformieren, kann nur ein erster Schritt sein. Ich glaube, dass das Vertrauen in die Demokratie das besagen alle empirischen Befunde schwindet. Das darf einen nicht kaltlassen. Wir brauchen sozusagen ein Demokratiebeschleunigungspaket, und zwar nicht nur beim Wahlrecht. Wir müssen darüber hinausgehen. Dazu gehören der Ausschluss von Lobbyisten in Ministerien und die Beantwortung der sozialen Frage. Denn nur wer sozial und ökonomisch vernünftig abgesichert ist und keine Angst vor der Zukunft haben muss, ist überhaupt in der Lage, sich aktiv in ein demokratisches Gemeinwesen einzubringen. Das ist eine ganz entscheidende Frage, wenn wir über Demokratie diskutieren.
[Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hartz IV muss weg!]
- Richtig, Hartz IV muss weg. Das haben Sie eingeführt. Nun können Sie helfen, Hartz IV abzuschaffen. Das wäre ein schöner Erkenntnisgewinn.

Der letzte Punkt, den ich ansprechen will: Es gibt einen großen Verdruss über die demokratische Verfasstheit in diesem Land. Dieser rührt vor allem daher, dass es keine Unmittelbarkeit bei Entscheidungen gibt. Wenn Sie in Ihren Wahlkreisen regelmäßig unterwegs sind - ich hoffe, dass das alle tun - dann hören Sie oft: Es ändert sich eh nichts; egal wen ich wähle, egal wer in Berlin regiert, es ändert sich einfach nichts. Wir sollten daher im Rahmen der Debatte über eine Wahlrechtsreform endlich auch die Frage der direkten Demokratie auf die Tagesordnung setzen; denn direkte Demokratie schafft Unmittelbarkeit. Meine Fraktion schlägt daher vor, bei jeder Bundestagswahl und an jedem 3. Oktober eine Volksabstimmung über ein Sachthema durchzuführen, das jede Fraktion vorschlagen kann. Das würde für Unmittelbarkeit sorgen. Wenn zum Beispiel die Mehrheit der Bevölkerung für den Abzug aus Afghanistan stimmte, dann könnten die Menschen sehen, dass der Bundestag gezwungen ist, das durchzusetzen. Das wäre ein wirklicher Fortschritt bei der Demokratisierung.
[Beifall bei der LINKEN]

Wir brauchen eine neue Ära der Demokratie,
[Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was ist mit den Straftätern?]
ein Einmischdemokratie, eine neue Ära der Solidarität. Dafür haben wir hier Vorschläge vorgelegt. Wir sind im Gegensatz zur CSU, die hier nur Kalte-Krieg-Rhetorik und kalten Kaffee geliefert hat, bereit, sachlich darüber zu diskutieren. Wir haben etwas vorgelegt. Ich bin gespannt, wann Sie etwas vorlegen. Wir sind wie immer zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit, weil wir im Gegensatz zu Ihnen keine Ideologen sind.

Schönen Dank.
[Beifall bei der LINKEN]

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