"Opfer erster Klasse und die anderen"
Am morgigen Freitag soll auf Antrag der Regierungsfraktionen im Bundestag in einer halbstündigen Debatte mit Sofortabstimmung darüber beraten werden, wie Deutschland »mit einem eigenen Ort des Erinnerns und der Begegnung dem besonderen Charakter der deutsch-polnischen Geschichte mit dem Tiefpunkt der deutschen Besatzung in Polen gerecht werden und zur Vertiefung der deutsch-polnischen Beziehungen beitragen« kann. Damit soll die kontroverse Debatte über ein "Polendenkmal" im Schnellverfahren beendet werden. Dazu erklärt Jan Korte:
„Es ist gut, dass nach Jahrzehnten des Verschweigens endlich die deutschen Verbrechen im Rahmen des NS-Vernichtungskrieges im Osten auf die Tagesordnung kommen. Wie das geschieht ist jedoch beschämend. Wer sich nur eine halbe Stunde Debattenzeit nimmt, der zeigt ziemlich deutlich, wie sehr er dem Charakter der deutsch-polnischen Geschichte tatsächlich gerecht werden und zur Vertiefung der besonderen bilateralen Beziehungen beitragen will. Der Antrag der Koalition selbst ist jedoch auch in mehrfacher Hinsicht problematisch. Einerseits ist die darin enthaltene Selbstdarstellung der Geschichte der Bundesrepublik maßlos verlogen. Union und SPD sprechen von einer "unvergleichlichen Versöhnungsgeschichte", die sich wenige Jahre nach Kriegsende entwickelt hätte. Kein Wort zum Geschichtsrevisionismus und Revanchismus der Bundesrepublik. Kein Wort zu Vertriebenentagen unter dem Motto "Schlesien bleibt unser!", an deren Teilnahme der damalige Kanzler Kohl nur mit Mühe gehindert werden konnte. Kein Wort zur jahrzehntelangen Weigerung der BRD die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen. Und natürlich kein Wort zur DDR, die die Grenze selbstverständlich anerkannt hatte. Und zum Zweiten birgt der Antrag die ganz reale Gefahr einer Nationalisierung des Gedenkens und Hierarchisierung der Opfergruppen. Denn es ist kaum vermittelbar, dass von den vielen Ländern, die dem Vernichtungskrieg zum Opfer fielen, nur Polen ein »eigenes« Denkmal gewidmet werden soll. So lange sich deutsche Erinnerungspolitik vorrangig an außenpolitischen Opportunitätsgründen ausrichtet kann sie weder den Opfern gerecht werden noch tatsächliche Aufklärung leisten.“
Über die Debatte berichtet heute auch neues deutschland:
"Opfer erster Klasse und die anderen" (neues deutschland vom 29.10.2020)