Erinnern ohne Zeitzeugen
Wie kann in Zukunft eine lebendige Gedenkkultur an NS-Verbrechen und die Schoah ohne noch lebende Zeitzeugen aussehen?
Von Jan Korte, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Heute vor 74 Jahren, am 27. Januar 1945, befreiten Soldaten der Roten Armee die knapp 7.500 Überlebenden des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Von den mehr als 5,6 Millionen Opfern des Holocaust wurden allein etwa eine Million Jüdinnen und Juden in Birkenau ermordet. Hinzu kamen ca. 160.000 nichtjüdische Opfer, die die Hölle von Auschwitz nicht überlebten.
Seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts werden in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, innerhalb der Gedenkstätten und antifaschistischen Gruppen und Organisationen Debatten um die Veränderungen des Erinnerns und Gedenkens an den Holocaust unter dem Schlagwort „Gedenken ohne Zeitzeugen“ geführt. Denn dass sich das Gedenken verändern wird, wenn auch die letzten der noch wenigen lebenden Zeitzeugen der NS-Verbrechen gestorben sind und uns nicht mehr berichten können, ist klar.
Zeitzeugengespräche waren über viele Jahrzehnte ein zentrales und besonders wertvolles Mittel der Erinnerungsarbeit. Generationen von Schulklassen wurden durch Überlebende der Lager, durch Widerstandskämper und -kämpferinnen erstmals mit der ganzen Dimension des historischen Geschehens konfrontiert, weil sie dieses oft nur schwer fassbare Grauen anschaulich und emotional erfahrbar vermitteln konnten. Empathie entsteht (auch) durch Individualisierung von Erfahrungen. Das Tagebuch von Anne Frank kann etwas vermitteln, was kein Geschichtsbuch leisten kann.
Seit Jahren wird nach neuen Konzepten gesucht, um diese „emotionale Ebene“ in der Geschichtsvermittlung – die über die persönliche Begegnung mit Zeitzeugen besonders intensiv war – zu kompensieren. Mittlerweile gehören aufgezeichnete Interviews in der Gedenkstättenarbeit längst zum pädagogischen Standard.
Zentral erscheint mir, eine Verbindung zwischen dem unabdingbaren Wissen über das Geschehen und der emotionalen Dimension über Mitgefühl und Anteilnahme herzustellen. Filme und Aufnahmen von Zeitzeugenberichten sind ein Mittel, die emotionale Ebene anzusprechen. Die Individualisierung von Schicksalen wird in der Gedenkstättenarbeit häufig genutzt, um Jugendlichen nicht nur Wissen sondern auch individuelle Erfahrungen über das historische Geschehen zu vermitteln.
Im Grunde genommen vermitteln die Gedenkstätten die Erinnerung an die NS-Verbrechen schon seit ein paar Jahren weitestgehend ohne Zeitzeugen. Nur ein ganz kleiner Teil der Gruppen, die zum Glück ja in immer größerer Zahl die Gedenkstätten besuchen, hat überhaupt noch die Möglichkeit, mit einem Zeitzeugen zusammenzutreffen.
Als LINKE setzen wir uns dafür ein, dass alle Kernaufgaben der Gedenkstätten – also das Erinnern, Aufklären, Vermitteln und Forschen –durch eine finanziell und personell gut ausgestattete institutionelle Förderung auf allen Ebenen abgesichert werden.
Das Gedenken darf nicht nur die Opfer im Blick haben, sondern muss auch die Verantwortung des Naziregimes und einer übergroßen Mehrheit der Deutschen für Verfolgung und Millionenfachen Mord klar und deutlich benennen. Diese Verbrechen sind in der Menschheitsgeschichte singulär und daher auch von gesellschaftlichen Entwicklungen nach der Befreiung vom Faschismus eindeutig zu unterscheiden.
Wichtig erscheint mir auch eine Regionalisierung des Erinnerns. Obwohl scheinbar ausreichend Literatur zur NS-Zeit sowie zur Geschichte der Konzentrationslager vorhanden ist, gibt es noch immer eklatante Forschungslücken, etwa bei der Beantwortung der Frage, wie „ganz normale Menschen“ unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen zu schweigend Zustimmenden, Mitlaufenden oder gar aktiv Handelnden werden und am Ende Mitverantwortung für Taten mit Millionen von Toten haben. Lokale Initiativen des Gedenkens an den Holocaust, die Einzelschicksale mit konkretem lokalem und/oder familiärem Bezug aufarbeiten, machen die Nazi‐Verbrechen und ihre Folgen gerade jungen Menschen anschaulich.
Kenntnisse über die Vielfalt der jüdischen Geschichte und Kultur, über ihren Einfluss auf die Entwicklung der abendländischen Kultur in Europa, sind insbesondere für Schüler wichtig, um die Dimension und die gesellschaftlichen Auswirkungen dieses Völkermords begreifen zu können. Und sie sind zugleich wichtig für das Verständnis des heutigen Judentums und für unser Zusammenleben.
Eine besondere Herausforderung liegt sicher auch darin die Erinnerung an die NS-Verbrechen in der Einwanderungsgesellschaft zu vermitteln. Der Nationalsozialismus und der Holocaust werden oft als – wenn auch negative – Nationalgeschichte unterrichtet. Dadurch können sich Migrantinnen und Migranten gar nicht richtig angesprochen fühlen. Entscheidend ist doch aber, die Geschichte des Nationalsozialismus zu kennen – und zwar unabhängig von der jeweils individuellen Herkunfts- oder Familiengeschichte.
Der Schriftsteller Navid Kermani hat dazu 2017 sehr treffend formuliert: „Man braucht Einwanderer oder ihre Kinder und Kindeskinder nicht als erinnerungspolitischen Störfall zu behandeln. Die Frage, wie eine Vergangenheit gegenwärtig bleibt, wenn die biographischen Bezüge fehlen, stellt sich ebenso, wenn diese Bezüge sich allmählich auflösen, wie wenn es sie nie gab. (…) Schwieriger zu vermitteln wird es künftigen Deutschen sein, Auschwitz nicht nur als Menschheitsverbrechen, sondern als eigene Geschichte zu begreifen (…).“
Zukünftig sollte deshalb meines Erachtens noch viel mehr auf die Herausarbeitung und Vermittlung der Mechanismen der NS-Zeit anhand aktueller Probleme wie Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung hinarbeiten. Denn heute geht die größte Form der Demokratiegefährdung nicht von Männern in schwarzen Uniformen aus, sondern vor allem von Erosionsprozessen innerhalb demokratischer Verfahren, vom Ausschluss vieler, von zunehmender sozialer Ungleichheit, zunehmendem Rassismus, gesellschaftlichen Auflösungsprozessen oder Angriffen auf parlamentarische Verfahren. Aber auch von Sicherheitsbehörden und Internetkonzernen, die systematisch Überwachungsstrukturen etablieren.